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Korrespondenz

Von Jean Paul an Paul Emile Thieriot. Bayreuth, 14. Januar 1805.

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Bayreuth d. 14. Jenn. 1805

Eben bekam ich Ihre Briefe und holländische Kiele. Da Ihre alten für mich auf der Stelle neue werden — doch frankierte —, wenn ich sie lese, weil sie, wie Ihr Leben, ohne Datum und Stadt geschrieben sind: so antwort’ ich auf so viele mit Einem sogleich. — Mein Leben ist jetzt ein miserables und horribeles; Odilie (Odo oder glück lich ist die frühere Schreibart vor der härtern Otto) ist immer so krank, daß ich ewig mit meiner Frau entweder zanke oder ver zweifle. Auch das Arbeiten geht schlecht; an mir wird zu sehr gearbeitet, folglich nicht von mir. Gott weiß was sonst noch für Feinde mich unterhöhlen, z. B. der Leib. — Das Freiheitsbüchlein von 9 Bogen ist fertig — abgeschrieben. Ob es Sie sehr — bei der Tendenz, etwas zu behaupten — bezaubern wird oder wenig, steht dahin; doch fehlet es auch nicht an Scherzen, so wie an Wortfügungen, die den Philologen heftig fassen.

Bloß zu Entwürfen und Erfindungen hab’ ich Gewalt; 1 Taschen buch für Weiber, 1 für Männer entwarf ich — ging dann wieder zum 7ten Bogen der Flegeljahre zurück — entwarf wieder ein Buch voll Kasualpredigten — arbeitete aber heute ein Kapitel der Flegel jahre zu Ende — und mit diesen wird entschieden fortgefahren. Meine philosophischen Darstellungen haben mich durch ihre Leichtigkeit von den poetischen entwöhnt. — Komme nur du einmal, köstlicher Lenz! Ich will dann schon schreiben und gebären wie du nicht nur, sondern auch ganz besonders ein wenig flott leben — ein wenig in guten Händen sein, nämlich in deinen, Lenz, d. h. auf dem Lande, und wärs nur zwei Maiwochen lange. Ich verstäube sonst, eh’ ich versterbe.

Lesen Sie doch die Nachtwachen von Bonaventura, d. h. von Schelling. Es ist eine treffliche Nachahmung meines Giannozzo; doch mit zu vielen Reminiszenzen und Lizenzen zugleich. Es verräth und benimmt viele Kraft dem Leser. — Selten les’ ich neuerer Zeiten etwas sehr Gutes oder sehr Schlechtes, ohne daß mir meine Bescheidenheit sagt: hier bist du denn wieder nachgeahmt. Am Ende glaub’ ich, haben auch die Alten mich fliegend durchblättert und mir Sachen gestohlen, die ich lieber nicht hätte schreiben sollen nachher.

Behaltet Euer Amt; doch höchstens so, daß Ihr im Mai, wo die gefleckten Meerschwalben von uns nördlich fortziehen und überhaupt das Nord-Gevögel, aus Süden mit dem Versprechen ausreiset, mit den Schnepfen und mit dem, was man an und in ihnen und Ihnen so schätzt und aufstreicht als Delikatesse, wieder zu kommen für Winterkonzerte. Ich thäts. Die Schuckmann schrieb viel hieher von Ihrem dortigen Glück und Ruhm und wie die ganze Welt Sie schätze, die in Offenbach ist.

O wie leicht ists an Sie zu schreiben, da Ihnen schon Unleserlichkeit genügt und man an nichts zu denken braucht, nicht einmal an Sie, geschweige an Verstand.

War Göde in Leipzig in England? Seine Reisebeschreibung davon ist herrlich. Sie würden ihm in diesem Fache das Wasser nicht reichen, das er durchschiffte, um nur anzulanden. Wie Corneille Racinen das Tragödienmachen abrieth, so möcht’ ich zu Ihnen sagen: statistische und ähnliche Werke überlassen Sie besser meiner Feder; Ihre tunkt hier mit dem umgekehrten Ende ein und fegt närrisch weiter. — Da Sie durch nichts — und kaum dadurch — zu bekehren sind als durch Beispiel: so sag’ ich hier aus Mangel meines lebendigen zu Ihnen auch kein moralisches: Lebe wol, sondern nur ein freund schaftliches: Leben Dieselben wol!


Richter
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Paul Emile Thieriot. Bayreuth, 14. Januar 1805. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=V_55


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 5. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1961. Briefnr.: 55. Seite(n): 19-21 (Brieftext) und 268-269 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin Varnh. 213 (derzeit BJK). 6 S. 8°. K (nach Nr. 56): Thieriot 14 Jenn. J 1: Wahrheit 7,12×. *J 2: Denkw. 1,456. B: IV. Abt., V, Nr. 22. A: IV. Abt., V, Nr. 25. 19,31 zu sehr] so viel K 32 Feinde] aus Gründe Ursachen H 33 z. B. der Leib] nachtr. H 34 Sie] davor gestr. Ihnen H 20,1 wenig] aus weniger H 4 1] davor gestr. 2 T H 6 7] aus 6 aus 10 H 8 entschieden] nachtr. H 12 ein wenig2] nachtr. H 14 verstäube] aus verwese H K versterbe] darüber mit Blei verwese K 20 denn] nachtr. H 21 fliegend] aus wenigstens H 22 lieber] davor gestr. später H 23 wo] aus wie H 24 nördlich] nachtr. H 25 aus Süden] nachtr. H 26 und in] nachtr. H 27 und aufstreicht als Delikatesse] nachtr. H 33 geschweige an Verstand] nachtr. H 34 War] aus Hat H 35 in diesem Fache] aus hier H 21,1 überlassen] aus lassen H besser] aus mir H 2f. und fegt närrisch weiter] nachtr. H 3 dadurch] aus dieß H 4 hier bis 5 zu] nachtr. H 5 Lebe wol,] danach gestr. (Lebe gescheut) H

19,24 Ihre Briefe: ältere Briefe Thieriots an Jean Paul, die er sich in Bayreuth zum Lesen ausgeliehen und erst jetzt von Offenbach zurückgeschickt hatte, weil ihm Emanuel (19. Dez. 1804) geschrieben hatte, daß Richter über die Nichtrückgabe erzürnt sei und ihm deshalb nicht schreibe. (Der Denkw. 1,455f. abgedruckte Brief an Thieriot vom 21. Dez. 1804 ist von Karoline Richter!) 28 Odo = glücklich: vgl. I. Abt., XIII, 138,33. 20, 2f. Wortfügungen: z. B. Leseknechtschaft I. Abt., XII, 20,23 — All-Leser 21,34 — Lesesklaven 22,20 — Denk-Knebel 22,36 — Denk-Ich 24,19 — urböse 27,18 — Geschäftsweib 33,26 — Irrgebäude 34,34 — Überlust 38,33 — Überfurcht 45,30 — Sprech- und Schreibsucht 51,8 — Schooßmensch 53,27 — Deutschmann 56,3 — taubblind 60,12 u. a. m. 4f. Taschenbuch für Weiber und Männer: dieser lange gehegte Plan kam nicht zur Ausführung; vgl. Bd. VI, Nr. 221, 85,1, 213,30. 15f. Die Nachtwachen von Bonaventura, Penig 1805, sind nach der unwiderlegten Feststellung von Franz Schultz nicht von Schelling, sondern von Friedrich Gottlob Wetzel (s. Bd. VII, Nr. 200†); Jean Pauls Irrtum erklärt sich daraus, daß Schelling unter dem Pseudonym Bonaventura in dem Schlegel-Tieckschen Musenalmanach für 1802 Gedichte veröffentlicht hatte. 23 Amt: Thieriot war in Offenbach als Mitglied ins „Colleg“ aufgenommen worden (an Emanuel, 28. Nov. 1804), d. h. wohl in das von dem Fabrikanten Bernard gegründete Musikinstitut. 25 Jean Paul, in Geographie von jeher schwach, nimmt irrig an, Offenbach liege südlicher als Bayreuth. 28 Henriette Schuckmann war damals zu Besuch in Offenbach. 34 Chr. Aug. Gottl. Göde (vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), II, Nr. 143): „England, Wales, Irland und Schottland; Erinnerungen an Natur und Kunst auf meiner Reise 1802/03“, 5 Teile, Dresden 1803—05.