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Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 22. Juli 1808.

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Bayreuth d. 22 Jul. 1808

Mein theurer Heinrich! Der Ueberbringer dieses Briefes ist zugleich dessen Ursache und Gegenstand. Denn sonst würd’ ich nach meinem langen Stillschweigen, das mich etwas zuviel nämlich deine Briefe kostete, mit diesem unbedeutenden Blättchen nicht vor dir erscheinen. Der Ueberbringer ist ein Herr v. Seckendorf, der seine Kammerdirektors-Stelle in Hildenburg [!] aus Gründen nieder legte, die ihm eben so viel Ehre machen, als hätt’ er sie länger gut verwaltet. Jetzt will er sich und sechs zu Hause gelassene Kinder vor der Hand durch Reisen für das Deklamieren erhalten. Von dieser Kunst so wie von der Musik scheint er mir und andern die tiefere Kenntnis und wackere Uebung und weiteifernde Liebe darin zu haben; nur wünscht’ ich, sein Kunst-Geist hätte auf einer beweglicheren Tastatur des Körpers zu spielen. Die Zeit ist feindselig gegen ihn; seinen guten Dichtungen für Theater und Roman gönnt sie nicht einmal einen — Verleger. Seine Lehrer, Jacobs und Schlichte groll, können, so wie die Abdankung, seine redliche Seele und überwallende Herzlichkeit assekurieren. Er wollte sogar unter dem abge schabten Namen H. RedlichEr nahm dafür seinen alten wieder an, den er in Amerika und unter seinen literarischen Arbeiten geführt, Patrick Peale. reisen, von welchem ich ihn erst durch vieles Loben der jetzigen Welt abbrachte. —

Wie kamst und kommst du über diesen Sommer hinweg, der mit allen seinen Farben doch nur eine schillernde Giftschlange der Nerven ist? — Ich werde dir vielleicht von meiner Frau redlich meine im März in der hiesigen Harmonie (einem Klubb) ange hangene Prophezeiung kopieren lassen, damit du siehst, wie viele meiner Lichter ich noch unter den Scheffel stecke.

Ganz wie du; denn erst neulich fand ich im wiedergelesenen alten Museum zwei anonyme Aufsätze, einen über das: Etwas über Lessing und einen über die lettres de cachets, welche durchaus von dir sein müssen, oder mein Genuß war der schlechteste Telegraph seines Wirths von der Welt.

Ich wünschte, ich wüßte noch meine Lobrede auswendig, die ich dir vor Jahren über den Manns-Stil, die Manns-Kraft und das Geschichts-Auge deiner Antritts-Rede halten wollte; jetzt hab’ ich alles vergessen. Sage mir lieber selber als Selbstkenner, war sie denn wirklich so vortrefflich als ich und meine Bekannten sie ge funden? Hätten wir Recht, so sind wir auch mit Recht auf deine andern Reden und auf deine (verkündigten) Anmerkungen zu Schel lings Rede begierig, dessen Flügeldecken noch auf keinem seiner Flügel so glatt und golden lagen; nur daß er oft seine Augen zu weit in die Fühlhörner zurückzieht (vergib die allegorische Mixtur, ich trenne sonst leicht Käfer und Schnecken). Damals wollt’ ich dir auch einige seiner leeren Wagen — ein metaphysischer und ein Krönungsaufzug verlangen durchaus einige leere Zeremoniewagen — namhaft machen, um dir zu zeigen, daß ich hineingesehen.

Über das politische Jetzt möcht’ ich dich vor allen in Europa am ersten hören. Freilich eh’ ich mich selber darüber hören lassen in meiner Friedenspredigt, wär’ es noch zehnmal besser gewesen. Geschichte — Geschäfte, ein philosophisches rechtes, ein poetisches linkes Auge — und die Ahnung und Pflege der sittlichen Welt — — mit diesem zusammen könnte, glaub’ ich, sogar ein Mönch, ein Ximenes, alle Staatsmänner im Errathen überflügeln.

Mich engt die Unentschiedenheit der jetzigen Welt in allen meinen Planen ein, oft in solchen, die sich auf sechs Groschen oder sechs Schritte belaufen. Indeß wird mir doch die Überzeugung immer durchgreifender, daß ja überall die äußere Welt nur von einer Unentschiedenheit in eine andere höhere überschwanke und man also, um etwas zu wagen, warten müßte, bis der jüngste Tag nicht nur, sondern auch das jüngste Gericht vorüber wäre. So fiel es mir neu lich recht stark auf als eine Selbstdummheit, daß ich durchaus nicht froh sein wollte, weil einige Befürchtungen und nicht zehn Jahre Hoffnungen vor mir lägen, gleichsam über dem Haha meines Lustgartens hinaus; denn, sagt’ ich, als ich schon die Dummheit wegwarf, willst du nicht genießen mitten unter den Befürchtungen, so fängt es gar nicht an, weil du doch den gewissen Plagen und Ver kürzungen des Alters zulebst; denn, eine kurze überfüllende Zeit des Lebens ausgenommen, bestiehlt jede, und jede spätere stärker den Ärmeren. So soll denn die Welt erfahren, daß ich mein 90tes Jahr wacker durchschreite, obgleich mein 91tes mir wenig verspricht; denn, sag’ ich, du lebst doch aufs 100te los, was so gar nichts hat und läßt.

Von Philosophien ein andermal, lieber Heinrich! Ich grüße herzlich deine Schwestern, die Frauen von Schlichtegroll und Jacobs und die Männer dazu und dich zuerst und letzt. Wehe jeder Sturm hoch über oder tief unter deinem würdigen Haupte hinweg!


J. P. Fr. Richter N. S. d. 26 Jul.

Patrick Peale gefällt mir immer mehr durch seinen reinen festen Charakter. Nur daß diesen das harte Schicksal blos bilden und bereichern, aber nicht belohnen will. Denke dir einen Menschen, der — erst 33 Jahr alt — nach Amerika des Bergbaues wegen gegangen, dann, als er dort Kaufmann werden wollte, von einem Freunde um die Summe dazu bestohlen worden — der sich mit Musik und Zeichenstunden ernährte — der eine Amerikanerin heirathete, um deren Vermögen von 4000 fl. er gleichfalls kam, so daß er sich durch Fischen erhielt — der dann in Sachsen Landeshauptmann wurde — in Wittenberg die französischen und sächsischen Verhältnisse aus einander setzte — vom Herzog von Hildb[urghausen] erbeten wurde, vom König zum Kammerdirektor — und der jetzt des Ministers L[ichtenstein] wegen, welcher seine Rechtlichkeit nicht aushielt, selber abschied, um sich durch die ewig ersehnte Kunst (Poesie, Musik) zu erhalten und sein Herz zu befriedigen. Präsident Völderndorf gab ihm eine Empfehlung an den Oberstallmeister Kesling mit. Mög’ er doch im kunstliebenden München ein Ruhe- und Arbeitsplätzchen finden! Sein Äußeres ist unbedeutend. Lebe wol!

Jetzt schreibst du mir doch bald, baldigst?

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 22. Juli 1808. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=V_552


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 5. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1961. Briefnr.: 553. Seite(n): 226-229 (Brieftext) und 359 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 7¾ S. 8°. Notiz Jacobis: b. d. 13 Sept. IX. K (nach Nr. 538): Jacobi 22 Jul. J 1: Roth Nr. 333× (der letzte Absatz gehört zum Brief v. 21. Sept. 1809, Bd. VI, Nr. 160). J 2: Jacobi S. 133× (die 2. Nachschrift, S. 138f., gehört zum Brief Bd. VI, Nr. 160). A: IV. Abt., VI, Nr. 31. 226,25 Kammerdirektors-] aus Kammerraths- H 30 weiteifernde] aus weitereifernde H 227,1 können] aus werden H 5 kamst] aus kamest H und kommst] fehlt K 7 ist] war K redlich] dazu gestr. Fußnote nämlich die Zukunft nicht aus der H 23 auf keinem seiner Flügel] nie K 27 leeren] davor gestr. metaphysischen H 228,1 mit diesem] aus dieß H 6 durchgreifender] eingreifender K 7 eine andere] aus die H, die andere K 14 unter] aus dem H 15 fängt] aus geht H den gewissen] aus auf die H 16 überfüllende] davor gestr. gebende H 19 obgleich] davor gestr. weil H 20 und läßt] nachtr. H 229,6 eine H

Vgl. Nr. 531 u. 551. 226, 25 Hildenburg: verschrieben für Hildburghausen. 227, 12f. Die Aufsätze „Erinnerungen gegen die ... Gedanken über eine merkwürdige Schrift [Etwas, das Lessing gesagt hat]“ und „Über und bei Gelegenheit des kürzlich erschienenen Werks Des Lettres de Cachets“ im Deutschen Museum, Febr., April, Mai 1783, sind in der Tat von Jacobi; aus dem ersteren zitiert Jean Paul in den Dämmerungen eine Stelle, s. I. Abt., XIV, 51f. 18 Antrittsrede: s. 163, 34†. 22f. Schellings Rede: „Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur“ (1807); vgl. Bd. VI, Nr. 756, 324,2–4. 228, 9ff. Ein Vorklang des „Freuden-Büchleins“ (II. Abt., IV). 12 Haha: s. I. Abt., XIII, 403,36†. 229, 1 König: Friedrich von Sachsen. 2 Lichtenstein: Minister in Gotha? 5 Karl Freiherr Kesling von Berger (1763—1843), Geh. Rat, kgl. bayr. Kämmerer und Oberstallmeister in München.