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Baireuth den 5 ten Oktober 1825

Verehrungswürdigster Mann!

Seit vier Wochen habe ich Ihren theuern Brief in Händen diesen Beweis des gütigsten Andenkens, der meinen Mann und mich innig gerührt und beglückt hat. Wie sehr hoffte ich, daß mein Mann im verfloßenen Frühjahr, Sie wiedersehen würde, weil er die Idee einer erheiternden Reise hatte, und ich wünschte hoffte damit Trost und Heilung für seine Augen verbunden zu sehn, indem ich sein Weitergehen bis Bonn , zu dem berühmten Walther wünschte, aber sein Gesundheitzustand erlaubte die Realisierung dieses Plans nicht. Nach einem leidlich durchbrachten Winter, hoffte ich so viel von dem Sommer, aber wider alle Erwartung sahen wir ihn von Monat zu Monat schwächer werden. Die Augen die früher der wichtigste Punkt seiner Existenz für uns waren, stehen jetzt im Hintergrunde zumal es entschieden ist, daß ein heilbarer grauer Staar sich unaufhaltsam fortbildet, und seine Reife auf dem linken Auge im kommenden Frühjahr Statt finden kann, wenn der Allgütige Ihm das Leben erhalten wolle. Aber, ich muß es Ihnen sagen, seine Lebenskräfte schwinden sichtlich. Eine außer ordentliche Abmagerung des Oberleibs, und eine seit 4 Wochen |2 überhand nehmende Geschwulst des Unterleibs und der Füsse verrathen nichts Gutes. Der treffliche Mann wurde schon seit Jahren von einer oft wiederkehrenden Diarrhöee gequält, die sich aber seit dem Monat Juni so [...] eingenistet hat, daß man fürchten muß, sie bedeute eine größere Schwäche der Eingeweide als man gewöhnlich bei solchen Übeln vermuthet. Ich sehe eine Schwäche der Lebenskräfte in allen diesen Zuständen, und habe schon lange mir gesagt, daß alle Kunst dagegen nichts ausrichten wird. Urtheilen Sie von meinem Zustande! Es ist wohl das Herzzerreißenste was es für den Menschen auf dieser Erde geben kann, ein theueres Leben vor seinen Augen langsam vergehen zu sehen, es ist hundertfacher Tod, denn mit jedem Erwachen, nach einem in Täuschung einwiegenden Schlummer, steht das Bild der schreckenden Zukunft deutlich vor unserer Seele, und wir empfinden im Voraus die Schmerzen des Verlustes. Daß ich nur mit meinen Kindern in der aufmerksamsten Pflege, einigermassen Beruhigung finden kann, werden Sie begreifen. Diese theueren Minuten die das Schicksal uns noch gönnt, Ihn zu haben, eifersüchtig zu benutzen ist seit einem Jahre, mein Bestreben, und so haben wir in ununterbrochener Nähe um seine Person die schönsten innigsten gegenseitigen Mittheilungen uns gewähren können die früher in unserer ganzen Ehe, wegen Seines isolirenden Arbeitens nicht Statt hatten. |3 Welch ein Genuß für mein durch die theuersten Verluste vom Leben abgewandtes Gemüth, meinem Mann durch Unterstützungen allerlei Art wahrhaft nützlich sein zu können, und das mit der rührendsten Liebe und einer zu herablassenden Dankbarkeit erkannt zu sehen. Es waren seelige Minuten die an Gehalt alles übertrafen was der Jugendzauber der enthousiastischsten Liebe, nur gewähren kann, denn es war ein festes sicheres Gefühl.

Vergeben Sie, theuerster Mann, Sie durch diese betrübende Schilderung bewegt zu haben – vielleicht gönnt uns Ihn der Himmel doch noch, allein ein sehr aufrichtiger Arzt , nahm mir letzthin alle Hofnung. Ein unendliches Glück ist es, daß der Theure, gar keinen Gedanken der Gefahr hat. Noch arbeitet er täglich an der Vollendung seines Buches über die Unsterblichkeit, allein es ist sichtlich wie viel Anstrengung es ihm kostet. Durch Vorlesen und Gespräche suchen wir ihn davon abzuleiten, so geht der Morgen hin. Nachmittags geht er zu mir herüber, und es sind die behaglichsten Minuten wo er auf dem Sopha liegend sich der Unterhaltung darbietet die ich mit meinen beiden Töchtern ihm gewähren kann. Seine Wünsche gehen nicht weiter hinaus, als nach dieser ungestörten Ruhe, und so ist er oft unglaublich heiter. Jakobi, Herder die Schriften von Herbart und Kastner, hört er mit unverganglichem |4 Interesse an, oft auch etwas Aesthetisches. Überraschend ist immer noch ein Gespräch mit interessanten Fremden, wie z. B. Schelling, sein Scharfsinn, und sein unversiegbarer Witz. In solchen Minuten täuscht Er selbst meine bange Furcht, durch den Glauben, eine so kräftige Natur könne sobald nicht untergehen.

Haben Sie die "Bücherschau" oder Nachschule der Aesthetik von Ihm gelesen? welche im Juni bei Max Joseph in Breslau herauskam. Mein Mann konnte sich die Freude nicht versagen, Ihren Torso darin, anerkennend zu bemerken. Jezt dringt man von allen Seiten in Ihn so wie Göthe jetzt zum drittenmal, endlich die Herausgabe seiner sämmtlichen Werke zu unternehmen. Da diese indem sie unverändert sein soll, nur ein Ordnen und kein Schaffen veranlaßt so ist wohl dieses die passendste Arbeit in seinem kränklichen Zustand; aber ist es nicht über alles wehmüthig daß der geliebte Mann, den daraus hervorgehenden Gewinn vielleicht nicht geniessen soll? O beten Sie mit uns, daß die gütige Natur an Ihm ihre Wunderkräfte beweise! O wie gern gäbe ich mein Leben für das Seinige!

Die Nachrichten von Ihnen und Ihrer theuern Familie, Ergehen, haben uns über Alles erfreut. Sie tragen Ihr Augenleiden mit einer so würdevollen Ergebung, daß man nur wünschen kann, Ihre übrige Gesundheit bleibe auf der Stufe des Wohlseins wie sie zum Preis des Ewigen jetzt ist, noch lange, lange! Mit dem innigsten Grus der Verehrung und Liebe nennen Sie mich und die Meinigen, den Ihren!

Caroline Richter geborene Mayer.

Zitierhinweis

Von Caroline Richter an Franz Wilhelm Jung. Bayreuth, 5. Oktober 1825, Mittwoch. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0077


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin A
1 Dbl. 4°, 4 S. Über dem Brief vfrH: An Jung.

Überlieferung

D: Persönlichkeit, S. 349–350, Nr. 348 (unvollständig).