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Meiningen d. 22. Okt.
1801.

Verehrteste Freundin! Wär' ich nicht in der Ehe – und Ruhe – u Einsamkeit – und sogar brieflichen Abgeschiedenheit: so wäre ein so langes Schweigen auf den schönsten Doppel-Brief

im July
, den ich je von Ihnen erhalten, eine eben eben so so lange Sünde. Ihre Reise nach Franken und die unsrige nach Bayreuth und Kassel machen die schweigende Zeit kürzer. Mit dem ganzen theilnehmenden Herzen, womit ich in Ihrem Hause wie ein daraus abgeschiedener Geist fortlebe, hört' ich Ihren Ankauf , die Promozion Ihres Oekonomen undIhre Reise . Nichts |2 als was mich freuete, vernahm ich; dahin gehört zuerst das Gedicht über Heloise , das ein algemeiner Enthusiasmus mir schilderte und das ich mit einem ähnlichen – suchte; denn ich bekomm' es erst. Wenn nimt die Adrastea ihre Diamantenwage wieder? – Ich sage hier dem herlichen liebenden Richter, m der an meinen Titan so freundlich nicht die längste sondern die kürzeste Elle anlegte u ihn so nicht unter dem Rekrutenmaas befand, |3 allen den frohen Dank, den ein aufgemunterter Autor und ein beglükter Freund nur bringen kan.O es ist schön, wenn der Fixstern, der uns den Weg beleuchtet, so nahe herabtrit, daß er unsere Sonne wird, [...] die zugleich wärmen kan.

d. 1. Nov.

Eben hab' ich die Heloise gelesen – beinahe gesungen. Der prosaische Aufsaz ist ihre Zeichnung und der poetische das kolorierte Gemälde. ihr Kolorit. Mit wenigen plutarchischen Lineamenten – die sie und sechs das Ideal weiblicher Kraft umreissen – ist ihre Gestalt und mit dene lyrischen Farben aus eine s m Herzens, das selber ein fortdauernder Hymnus auf die Natur ist, unser |4 Gefühl für sie gegebenu verewigt. Über alles rein und hoch und schön ist der Todtengesang, der seine sich selber in Sphärenmusik gesezt ist. sezt. Auch meine Frau wurde innig von dieser Wahr- u. Schönheit bewegt.

d. 2. Nov.

Gestern fand ich bei dem Herzog in der Zeitung mit der die Standeserhöhung des über den Stand Erhabnen , der den bösen römischen Kaisern gleicht, die keine Götter achteten und zulezt Götter wurden. Aber ich errieth den kameralistischen Anlas , den Sie mir – heute durch Knebel schrieben . Meinen Glükwunsch dem F C hurfürsten u. mein Zähnknirschen der juristischen Harpye , die Ihren Tisch besudeln wil! – Jenes Goerz und |5 der Churfürsten mögen Sie von dem überzeugen, was ich Sie so oft versicherte, daß nämlich ganz Deutschland ein wenig anders urtheile und handle als zuweilen Ihre unnachbarliche Nachbarschaft . Und Ihr Mutterherz nehme daran wahr, daß es ausser dem Vaterherzen in der obern Stube noch ein zweites in der obersten Stube – jenseits der Höhe – gebe, worauf man bauen kan. –

Von meinem Ehe-Empyräum u. Glanz schweig' ich, ausgenommen gegen meine Frau; wir kennen nur 1 Eden-Augenblik, das ist der unsers Findens u. Habens u. dieser ist noch nicht aus. Ungebeten geh' ich jezt schwer aus. vom Lesetisch weg. Die Ehe lehrt Einsamkeit. Ich brauche jezt verlange nichts als Bücher, Berge u. Bier ; das hab' ich; doch sehn' ich mich – und dadurch könt' Ihr Wunsch wahr werden

zumal da ich neulich ausgerechnet, daß ich anstat an einen Ort hinzureisen u. dan wieder zurük, mit derselben Summe 2 Wagen – mehr brauch' ich nicht – bezahlen kan u. d nur bleiben darf.
– zuweilen nach der einem |6 andern und höhern Geist als den gedrukten. – Wenn ich jemand zum Essen bei mir habe bitte – was unendlich selten geschieht – so bitt' ich mich auch mit, und erstaune dan über die Ordnung am Tisch und glaube, auswärts zu speisen. – Was macht Büri u. die Berlepsch? – Dem D. Maier (der so malt wie der Prof. Maier) meinen Grus u. Fluch, daß er mir die in seinen Büchern bestehende Bezahlung meines Titans noch nicht geschikt. Darf ich Sie um das ernste Mahnen dieses bösen Schuldners bitten? – Jacobi ist in Aachen u. (im Winter) in Paris. – Friede sei u. bleibe jezt mit dem Frieden! – Ich schreibe u. lese hier viel u. bin doch gesünder, weil ich mich keine Berliner-, Berlepschs-, Kalbs -Vormitternächte aufzehren. – Meinen Grüsse aus dem Herzen des Herzens an unsern primus acquirens – u. an die Holde, die Tisch-Antipodin – u. an alle Ihre Kinder u. meinen Dank für Ihr warmes Denken an den alten ersten ernsten Paul

R.

|7 Darf ich es auch wohl sagen, unvergesliche liebe Mutter, daß alles, was das äußere Schiksal thut, Ihr innerstes Familienglück zu erhalten, mein Herz mit Dank zu Gott erhebt. Möchten Ihre Jahre wachsen wie Ihr Glück! Wir besuchen Sie recht oft mit der Seele Mein Mann dürstet nach dem Ihrigen, und nach den Seinigen. Es ist wohl glücklich, das genügsame sanfte Kindesherz, aber es entbehrt den fremden hohen Geist, den es so ganz umfaßt. Der Herzog allein ist meines Mannes einziger männlicher Umgang – er liebt ihn und will sich, so scheint es, an ihm aufrichten. Seit seiner Mutter Tode will er blos ein guter Mensch seyn.

Die Heloise kam uns wie ein Besuch aus einer höheren Welt – es bedeutet nichts wenn ich sage, daß meine Seele in Bewunderung Andacht und erhabne Wehmuth aufgelöst war – und so wirkt sie überall wo eine Seele großer Eindrücke empfänglich ist.

|8 Hat meine geliebte Luise mich nicht vergessen ich sehne mich nach ihrer heiligen Seele, und lese oft das kleine Gedicht, was sie mir [...] b eim Abschied gab. Es waren schöne Tage die Sie uns gaben – im Frühling der Liebe, wie der Natur.

Schließen Sie, liebenswürdigste und verdienstvollste der Gattinnen und Mütter nächst Richter auch mich in Ihr Herz, weil e wi r doch nun beide so fest und ewig an einander hängen. ich lebe in Liebe für den Einzigen – ach, Sie können es nicht wißen wie göttlicher Natur er ist, denn sie haben ihn ja nicht – sehen ja nicht sein Thun und Treiben.

Warum bin ich so gesegnet! rief ich oft aus. Ihre Tochter umarmt Sie, und empiehlt sich ehrfurchtsvoll dem großen und guten Vater.

Caroline

Zitierhinweis

Von Jean Paul und Caroline Richter an Caroline Herder. Meiningen, 22. Oktober bis 2. November 1801, Donnerstag bis Montag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0185


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Textgrundlage

H: GSA, 44/215, Bl 35-38
2 Dbl. 8°, 6 S. von Jean Paul, 2 S. von Caroline Richter.

Überlieferung

D: Herders Nachlaß, Bd. 1, Nr. 43, S. 332–337 (ungenau).

D: Denkwürdigkeiten 3, S. 86–88 (nur Jean Paul, unvollständig, ungenau).

D: 3. Abt., Bd. IV, Nr. 204 (nur von Jean Paul).

D: Stapf, Nr 135, S. 97–99.


Korrespondenz

B: Von Johann Gottfried und Caroline Herder. Weimar, 15. Juli 1801 (4. Abt., Bd. IV, Nr.158)
B: Von Caroline Herder an Karl Ludwig von Knebel und Jean Paul. Weimar, vor dem 29. Oktober 1801 (?) (4. Abt., Bd. IV, Nr.181)
A: Von Caroline Herder an Jean Paul und Caroline Richter. Weimar, 16. Dezember 1801 (4. Abt., Bd. IV, Nr.193)