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Liebe Tante!

Vor längerer Zeit hat im allgemeinen Anzeiger für Deutschland eine Aufforderung des Medizinalrath Hirsch in Baireuth an junge Ärzte zur Theilnahme an dem von ihm errichteten Institute für Geisteskranke, gestanden und im Auftrag eines mir sehr lieben Freundes wende ich mich an Sie, um mit Ihrer gütigen Hülfe wo möglich einige nähere Nachricht hiervon ihm mittheilen zu können. – Schulze , so heißt er, ist seit einigen Jahren schon Baccalaureus der Medizin und besonders im physiologischen und psychologischen Theile seiner Wissenschaft bedeutend vorgerückt, ist gesonnen, auf diese, seit Kurzen ihm bekannten Aufforderung Rücksicht zu nehmen, sobald er nur etwas Näheres, besonders die Bedingungen, unter welchen jene Theilnahme oben erfolgen soll, weiß; – unter Bedingungen versteht |2 er aber nicht Gehalt, indem ihm vor der Hand seine weitere Ausbildung besonders in diesem Fache, zu dem ihn seine wirklich außerordentliche Kentniß des menschlichen Wesens bis in seine tiefsten und verborgensten Falten hinein, vor Vielen zu rufen scheint, vorzüglich am Herzen liegt; –

Sie könnten mit Recht fragen, warum er nicht selbst an Hirsch sich wendet und durch mich erst Ihre Güte und Gefälligkeit im Anspruch nimmt; – um ganz und bestimmt Ihnen hierauf zu antworten, müßte ich Ihnen die Persönlichkeit dieses außerordentlichen Wesens darstellen, und dazu dünkt mich der Bereich eines Briefes zu dürftig und arm; – nur so viel: ich lernte ihn etwa vor einem halben Jahre kennen, wo dieser Geist fast erdrückt von der kleinlichen erbärmlichen Außenwelt um sich, im Kampf eines durch Einwirkung alltäglicher Menschen und Verhältnisse fast gänzlich verfehlten Lebens, das Leben gänzlich aufzugeben und in einer mit unendlicher |3 Kraftanstrengung endlich errungenen Apathie sein übriges Dasein hinzuleben beschlossen hatte; – die Ruhe, mit der er auf das ganze Treiben der Menschen herabsah, der beständigste ungetrübteste Gleichmuth bei den größten Entbehrungen jeglicher Art, dabei neben die Funken des tiefsten Scharfsinns, gestischen Reitzes und einer wirklich schöpferischen Phantasie, die aus dem künstlich mit Asche bedeckten Feuer oft hervorsprühten, zogen mich mächtig an; – ich hatte solchen Menschen noch nie gesehn; – seit der Zeit hat er sich nach und nach erschlossen, ganz vor mir entfaltet – und ist nun gesonnen, eine Regeneration mit sich vorzunehmen und zu irgend einer Thätigkeit wieder zurückzukehren, um die ihm wenigstens noch übriggebliebenen Kräfte noch zu brauchen; – ob ich an diesen Entschlusse einigen Antheil gehabt, weiß ich nicht; – genug es ist so – und ich halte es für eine heilige Pflicht, |4 Alles was ich kann zu thun, um wo möglich Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die vielleicht, gleich zu Anfang ihm entgegenstehend, ihn von diesem Entschlusse nach und nach zurück wieder bringen können; – und wäre eine von Hirsch ihm direkt zugesendete abschlägige Antwort vielleicht ein solches. –

ich bitte Sie aber, liebe Tante, um recht baldige Antwort, theils weil vor Ostern sich Schulze’s Bestimmung durchaus entschieden haben muß, theils ich selbst nicht mehr volle 3 Wochen hier sein werde. –

Der Mutter Zustand scheint immer noch der selbe; nicht besser, nicht schlimmer. –

Wollen Sie mich allen Ihrigen bestens empfehlen.

Ihr Neffe
Richard Spazier
Juris utriusque Baccal.

Leipzig den 2ten März
1825
Zitierhinweis

Von Richard Otto Spazier an Caroline Richter. Leipzig, 2. März 1825, Mittwoch. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0444


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin A
1 Dbl. 4°, 4 S.