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Leipzig den 25 Jan. 1805

Ich weiß nicht, mein theurer Reichardt ob Sie das entsetzliche Schicksal bereits kennen, das mich und meine Kinder betroffen hat . Als einem der ältesten Freunde meines geliebten Mannes, darf ich Ihnen die Theilnahme an uns zutrauen, zu der mich der ungeheure Verlust den ich erfahren habe berechtigt. Ich habe weiter kein Anliegen an die Menschen, als daß sie an meinen Verlust glauben sollen, ich entbehre nichts als das Herz das mich und die Seinigen so heiß geliebt hat. Wie ich mich verlaßen fühle, wie ich vergeblich meine Hände ausstrecke nach ein Wesen das allein mir, nur mir angehörte, wie ich mein müde geweintes Auge sehnsüchtig zu dem Himmel erhebe in welchen mein Glaube mir sagt daß ich ihn wiederfinden werde, brauche ich daß |2 einem Manne zu sagen, der selbst Gatte, Vater, Versorger ist seiner geliebten Familie, und die heiligen Bande kennt, die nichts auflösen kann als der Tod.

Sie werden besorgt seyn um meine äußere Lage, wie alle meine Freunde es sind, und wodurch hatte ich verdient, daß Sie der Meinige nicht wären! Wißen Sie also daß dafür gesorgt ist, mir das Geschäft meines Mannes für die Zukunft zu sichern, welches er selbst schon bey seinem Leben als Familien Eigenthum betrachtete . Wie groß die Anmaaßung ist für ein Weib einem Institute vorzustehen, für welches der Blick eines Mannes gehört, fühlt Niemand stärker als ich. Auch hatte ich sie nicht diese Anmaaßung, meine Freunde hatten sie für mich. Ich thue was man will, daß geschehe.

Mein biedrer Schwager Mahlmann hat die Rechte meiner armen |3 Kinder auf eine Unternehmung die das frischefrühe Grab ihres edeln Vaters wurde, mit eiserner Festigkeit durchgefochten. Und daß ich Sinn habe für das Gefühl dem theuren Menschen, dem ich Alles verdanke, meine Bildung für das Leben, meinen Credit unter den Menschen, meinen Sinn für das Schöne und Wahre, daß ich dem auch nach seinem Tode, meine Existenz zu verdanken habe, das trauen Sie mir zu, ich darf es fordern.

Spazier starb wie ein Mann –- nein was mehr ist, er starb wie ein guter weicher Mensch, wie ein zärtlicher Vater, dem der Glauben an sich und an die Menschheit wieder gekommen war, in dem erhabenen Momente des Scheidens vom Irrdischen. Versöhnt mit allen seinen Feinden, beruhigt über das Schicksal seiner Hinterbliebenen, in Frieden mit sich selber, erwartete er den letzten Augenblick mit vollkomner Besonnenheit, |4 mit einer Heiterkeit, die mit dem Tode versöhnte.

Er selbst nannte den letzten Tag seines Lebens den seeligsten, klarsten seines verworrenen Lebens.

Ich weiß nicht, ob ich etwas überflüßiges gethan habe, indem ich Ihnen alles dies geschrieben habe. Laßen Sie Ihre Frau Theil haben an meinen Empfindungen. Ich hoffe, daß Ihre alte Freundschaft für Spaziern über das Leben hinausreichen wird, und forterben auf seine armen Kinder.

Minna Spazier.

Zitierhinweis

Von Minna Spazier an Johann Friedrich Reichardt. Leipzig, 25. Januar 1805, Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0043


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin A
1 Dbl. 4°, 3¾ S. Auf S. 1 in der oberen linken Ecke vfrH: Spazier sowie Aufdruck: Tieck.