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Dresden den 29ten März
1825

Liebe Tante!

Gestern Vormittag bin ich mit meiner Habe hier eingetroffen, um einen neuen Abschnitt in meinem Leben zu beginnen, gegen alle frühere Erwartung und Aussicht so ganz allein . – In der weiten öden Wohnung ist keine Spur mehr von dem Wesen was früher hier sorgte und litt; – und seltsam ist’s, daß es einem ein großer Trost ist, daß es nicht mehr vorhanden ist; – denn schrecklich muß in der letzten Zeit die arme, tief Gebeugte geduldet haben; mir graust es wenn ich davon höre, so behutsam sich auch jeder darüber auszudrücken bestrebt; – ein Paar Griffe aber, die ich eben auf dem Instrumente that, das in der Stube steht, wo sie ganz zuletzt weilte, haben mich wieder mit einer tiefen Wehmuth erfüllt; – der Gedanke an die Töne die da verklungen sein mögen werden mich durch mein ganzes Leben beglei |2 ten; – wäre ich nur in den letzten Weihnachtsfeiertagen um sie gewesen; – was gäbe ich nicht jetzt darum! –

Minona habe ich in ihren Gesichtszügen so merkwürdig verändert gefunden, daß ich nicht recht weiß, was ich dazu sagen soll: – aus dem runden Gesichte ist ein längliches geworden, obwohl interessant genug; – sie kränkelt sehr; – wenn sie die ihr bevorstehende Reise nur glücklich übersteht! – Sonst scheint der Standpunkt, auf den sie nun gestellt ist , eine große Veränderung zu ihrem Vortheil in ihr hervorgebracht zu haben; da sie das, was ihr früher gefehlt, errungen hat, wird sie vollkommen u vor allen Vielen andren ganz das sein, was zu sein ihr obliegt; – auch Abeken erscheint bestimmter, männlicher, umschauender als früher; – ein neuer Beleg dazu, wie jeder Mensch ganz anders wird, wenn er an die für ihn passende Stelle kommt; – in u |3 zugleich für die Erbärmlichkeit unsrer Zeit und unsrer Staaten, in denen fast keiner an seinem Platze ist. –

Was mich betrifft, so weiß ich vor der Hand noch gar nicht, wie sich meine Verhältnisse hier gestalten werden; – Uthe wird heute mit einem jungen gescheuten Advokaten der, mit dem er in Geschäften steht, mit Plesch , den Sie wohl auch kennen, da er im Sommer neben der Mutter wohnte, Rücksprache nehmen; – vielleicht kann ich bei ihm des Vormittags künftig arbeiten, (den Nachmittag will ich für mich und meine Studien behalten); er kann mich vielleicht später am ersten brauchen und bezahlen; – Kuhn hat, glaub’ ich, keinen Platz offen; auch ist mir das sehr lieb; ich möchte dort in eine poetische Affen und Damen Damen-Gesellschaft kommen, und mich auf meiner Art ziemlich derb darüber auszusprechen versucht sein. – sogenannten gesellschaftlichen Umgang mag ich auch nicht, vielmehr will ich im streng wissenschaftlichen Arbeiten das nachholen, was |4 früher nicht gut sich machen ließ. – manche interessante Menschen werde ich ohnehin bei Pilgrim’s und Schwarzens sehen, die mich mit vieler Güte, wieder aufgenommen haben, trotz dem, daß namentlich die Pilgrim meist wegen früher manche harte Reden von der Mutter hat hören müssen. –

Uthe ist sehr gut gegen mich und wahrscheinlich werde ich wohl den Sommer über bei ihm wohnen und essen; vielleicht letzteres gegen eine kleine Vergütung; – so viel ich jetzt ersehen kann, scheint seine Lage jetzt nicht ohne Aussichten; – wenn er es vielleicht nun noch ein Jahr so ansehen kann, dann wird das Knochenmehl gewiß guten Absatz finden und das kann ihn allein schon herausreißen. –

Zu den Feiertagen geht er in die Schweiz; – die Reise wird auch ihm nach einen solchen Winter wohl thun; – ich sehne mich auch unendlich in Frühlingsluft und kleine Berge; – vielleicht kann ich eine Reise nach Tirol machen mit Meier , der am Michaeli mit mir durch Böhmen nach dem Fichtelgebirge zog; – |5 es ist nicht nur jetzt die schicklichste Zeit, dergleichen ohne Aufschub in der Carriere zu machen, sondern auch in physischer Hinsicht habe ich eine Bergluftkur nöthig, da in diesem Winter, wenn auch nicht durch vieles Stubensitzen Arbeiten , doch durch beständiges Stubensitzen meine Brust etwas gelitten hat. –

Was Hering anlangt, nach dem Sie Sich so angelegentlich erkundigten, so bin sind wir nicht ganz auseinander; im Gegentheil sind wir zuweilen zusammengekommen; – daß es nicht mehr und öfter geschah, daran ist eine Eigenheit von ihm schuld, daß er ungern da ist und sich gedrückt fühlt, wo er weiß, daß er Leute findet, die ihm an Wissenschaft und Geist sehr überlegen sind und ich in der letzten Zeit sehr interessante Bekanntschaften der Art gemacht hatte, wie namentlich Schulze’s u mehrern, d mit denen ich gern und sehr viel umging; – er fühlt sich da nur wohl, wo er wie eine Art Orakel betrachtet wird und allenfalls empfängliche Gemüther findet, die ihm gern zu hören und ihn verstehen; da er in seinen Ansichten und Trieben doch |6 im Ganzen eine Art Stereotype ist, die anhörende Gesellschaft mich weiter nicht interessirt, so sehen Sie leicht, daß unsere Wege nicht viel zusammentreffen; – für’s Haus u für’s Detail ist er sehr angenehm u originell, dabei wirklich treu und gut; – eine Frau wird er gewiß ganz glücklich machen, da sie ihn ganz und gar erfüllt und befriedigt, u der wenn er eben ihr ein solches Orakel ist, wie er von es gern hat; – das weiß er auch sehr wohl und sucht sich daher ein rein weibliches, nicht eben geistig hochstehendes Wesen; – findet er eine solche einmal, was ich ihm herzlich gern wünsche, m ist und macht er gewiß sehr glücklich; – er stand mir übrigens in den letzten Tagen in Leipzig doch treulich bei und brachte mich, da mir eine Art Unfall begegnete, der mich nöthigte sehr schnell und plötzlich abzureisen mit einem einspännigen Wagen bis nach Friedstein, wo er mit mir die Nacht blieb und auch der Pilgrim seines anspruchlosen und bescheidenen Wesens halber sehr gefiel, – es waren recht schöne Reisetage; ich mit ihm alleine in in einem bequemen Wagen in der herrlichsten Frühlingsbläue. – |7 er ging von dort wieder nach Leipzig zurück, von wo aus er nach Marburg zu gehen gedenkt, um dort zu promoviren, dann hierher kommt, den andren Examen zu machen, dann vielleicht nach Zittau, im Herbst, wenn es möglich ist nach Messina gehen will, wohin er eine Empfehlung hat; – nach Baireut zu Hirsch geht weder er noch Schulze , da uns allen, die wir den Brief von Herrn von Hirsch gelesen, der Mann, wenn auch die "Empfehlung von Schulze’s Wünsche ihm wünschenswerth" erschienen sein mögen, ehrlich gesagt wenigstens als ein legitimer Pedant vorgekommen ist, und wir alle gesonnen sind, dergleichen Leuten aus dem Wege zu gehen; – Schulze geht vielleicht nach Bischofsgrün am Ochsenkopf, oder nach dem Aargau um diesen Sommer über in reiner Bergluft und unter kräftigen Menschen körperlich und geistig immer mehr zu gesunden; vielleicht wird er von dort aus der literarischen Welt etwas bekannt, die sich, glaube ich vielleicht etwas wundern wird. – vielleicht bin ich im Stande, Ihnen nächstens von einem andren neuen Freunde von mir, etwas mitzutheilen, das selbst dem Onkel in vieler Hinsicht Freude und Befriedigung gewähren wird.

ich komme nun zu einer Bitte, die ich im Namen unsrer Aller an Sie thue; – nämlich mit nächster Post, mir wissen zu lassen, was für Verbindlichkeiten die Mutter |8 gegen Sie zu erfüllen gehabt hat, da wir gern noch vor Uthe’s Abreise die kleinen Antheile eines Jeden bestimmen u Alles in Ordnung bringen wollen; – auch würde ich Sie ganz besonders ersuchen, mir doch alle wichtigen Papiere, die Sie etwa von der Mutter in Händen haben, zu schicken oder von denen Sie etwas wissen, Nachricht zu ertheilen; – ich habe mit der Ubereinstimmung der Übrigen diesen Theil der Erbschaft übernommen; Sie können Sie später alle wieder von mir zurück erhalten; ich babsichtige nur den möglichsten Aufschluß über ihr Sein und ihre frühen Verhältnisse. – An Everd habe ich in gleicher Absicht heute geschrieben und am Donnerstag öffnen wir gemeinschaftlich ihr Schreibepult, da sie mehrmals von Papieren gesprochen, die dort liegen sollen.

Bewahren Sie uns nun ganz Verwaisten im freundlichen Sinn – und grüßen Ihre Familie sorglich von uns Allen; – es geht ein finsterer Geist durch unser Haus; drum wollen wir Alle uns die Hände traulich reichen: – auch die Emma streckt ihre Hand, nachdem sie wieder ein Kind verloren, nach uns aus; – wir nehmen sie freudig, eingedenk der großen Todten da droben. –

Richard

Zitierhinweis

Von Richard Otto Spazier an Caroline Richter. Dresden, 29. März 1825, Dienstag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0179


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin A
1 Dbl. u. 2 Bl. 8°, 8 S.