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Meiningen den 5ten Februar
1810

Denke nur um Himmelswillen nicht, geliebte Caroline, daß ich durch meine verspähtete Antwort mit Dir abrechnen will; Nein, bey Gott nicht! Nach dem Drange meines Herzens hätte ich Deinen herzigen Brief mit umgehender Post beantwortet, allein mancherley Hinderniße entgegneten mir, namentlich Luisens außerordentlich Krankheit , von deren Ausgang ich Dich gern benachrichtiget hätte. Vielleicht weißt Du durch die Hoffräthin Heim schon etwas davon, wo nicht, so wiße, daß Luise zu Ende October's in Folge einer ganz besondern Krankheit Verkältung, von einem Nerven Schlage getroffen ward. Etwas erschütterndes habe ich nie gesehen, völlig gelähmt – mit Ausnahme des Kopfes und überhaupt aller Seelenkräfte, – lag die hehre Gestalt da, ohne Empfindung und Bewegung, und dabey ein heftiges Fieber. Denke Dir dazu den Vater, den tiefgebeugten fast für Schmerz zernichtendten Greis und den Ausspruch unsrer Aerzte, daß jeder Augenblik Luisens letzter seyn könnte. Ohngeachtet ich für der Leidenden Pflege wenig thun konnte |2 diese hatte die Hoffpredigerin Vierling mit seltner Rastlosigkeit übernommen, so verließ ich das Haus doch wenig, weil es mir schien als klagte mir der Alte seinen Kummer gern, und daß er zufrieden war mit meiner Art denselben aufzunehmen und mitzutragen. Caroline, was ich litt kann ich Dir nicht sagen, im eigentlichen Sinn, ich habe graue Haare davon getragen. Daß Luisens Zustand der Beweglos und Empfindungslosigkeit noch durch vielerley andre Erscheinungen immer bedenklicher ward, begreifst Du leicht. Unter Andern war die Schwäche des Unterleibs so groß, daß unwillkührlich und ununterbrochen die gewöhnlichen Verrichtungen vor sich gingen. Jedes was sie genoß, schien auf geraden Wege und unaufhaltsam wieder fortzugehen. Man wußte kaum, ob irgend ein Medicament seine Wirkung thun könnte, mit einem Worte es war ein Jammer von dem nur der Zuschauer, sich einen Begriff machen kann. Das Fieber dauerte zwölf Tage fort und so blieb die Todes-Gefahr immer nahe. Am dreizehnten Tage mäßigte sich das Fieber, und für ihr Leben fingen die Aerzte an, einige Hoffnung zu schöpfen, aber im übrigen blieb alles unverändert. Daß man unter |3 solchen Umständen, ihr kaum die Erhaltung wünschen könnte, fühlten wir alle schmerzlich, selbst ihr Vater resignirte sich. Vier volle Wochen blieb alles im Alten, aber unermüdet arbeiteten die Aerzte auf Wiederbelebung und Erregbarkeit hin. Endlich in der fünften Woche trat Panzerbieter eines Morgens mit einem vor Freude ganz verklärten Angesicht zu mir, und sagte, daß während er Luisen seinen Morgenbesuch gemacht hätte, sie auf einmahl über Schmerzen im linken Fuße geklagt und bald darauf habe er eine leise Bewegung bemerkt, die die Kranke zwar nicht gemerkt, aber die sie nachher als er sie darauf aufmerksam gemacht hätte, doch habe – wenn gleich sehr schwach – wiederhohlen können. Jetzt sey in der That einige Hoffnung für die Wiederkehr ihrer Lebenskräfte und Lebensthätigkeit da. Merklich nahmen nun wirklich Beweglichkeit und Empfindung zu, die oben erwähnten Schwächen minderten sich, und nur in der zehnten Woche fängt sie an umher zu gehen. Da sie in der ersten Zeit gar nichts genoß, so ist sie allerdings sehr mager geworden, doch fängt sie an wiederzuzunehmen. Ihre Züge sind dieselben |4 geblieben, ihr schönes klares Auge beherrscht vor wie nach ihr ganzes Wesen. Ein Glük für Luise war es, daß sie nie an ihrer Genesung verzweifelte sondern den festen Glauben an dieselbe behielt. Dies gab ihr den ausdauernsten Muth und eine eigne Kraft, den nur zu muthlosen Vater zu trösten. Recht viel habe ich mitgelitten, aber nun freue ich mich auch, mit der wieder gegebnen Tochter. Außerordentlich und ewig merkwürdig wird mir die aerztliche Behandlung von Luisen bleiben. Nie sah ich unsern Panzerbieter größer, nie sein Genie erhabner. Ueber jeden gewöhnlichen Gang einer gefährlichen Krankheit war gleich von Anfang Luisens Zustand hinaus, nur außerordentliche Mittel und eine seltne Beobachtungs Gabe konnten etwas nützen. Aber nicht allein der Geist auch das Herz mußte mitwirken, wenn Jahn's forschender Geist aber sein kalter Mensch, nichts mehr wußte, dann saß noch lange Panzerbieter sinnend da, und oft wie durch höhre Eingebung fand er etwas. Der alte Heim sagt selbst, so groß habe er P. nicht geglaubt, sein Genie als Arzt |5 habe die höchste Probe bestanden. Aber Panzerbieter kränkelt, ich bin bange für ihn . Ich möchte Dich beynahe, Geliebte, um Entschuldigung über meine weitläufige Beschreibung bitten, doch Du liebst ja Luisen, und die Krankheit nebst der Genesung gehört für mich zu den wunderbaren Erscheinungen der Zeit. Ich bitte Dich, theile Ssie Emanuel mit, noch einmahl mag ich sie nicht wiederhohlen.

Für das Erfreuliche was Du mir über Richters Gesundheit sagst, danke ich Dir. Wenn man sich gleich nicht erklären kann, wie man bey körperlichen Leiden Dämmrungen schreiben kann – denn giebt es etwas beßer Gesagtes, etwas tiefer Gedachtes und inniger Empfundnes –! so wußte ich ja, daß unser Richter krank war und es bekümmerte mich unaussprechlich. Himmel, Caroline, was gab uns R. mit den Dämrungen! Ich hoffe endlich Richtern überall zu verstehen, ich las jetzt zum dritten mahle seine sämtliche Werke, wie aber die Dämrungen auf mich wirkten kann ich Dir nicht beschreiben. In der trüben Zeit bedurften wir so etwas |6 solcher Winke, solcher Aufmunterungen, uns selbst eine beßre Zeit zu gestalten. Ich hatte einen doppel Genuß als ich die Dämrungen las, einmahl las ich sie für mich selbst, und dann durfte ich sie den wakern Truchseß vorlesen. Wie tief fühlte der Edle, den Geist der sie schuff, hättest Du uns doch belauschen können. Aber, Caroline, soll ich denn mit Dir zürnen über das was Du mir von Dir, bey Erwähnung Deiner Lieblinge sagst. Ich ehre jede Bescheidenheit, daß mir jedoch die Deinige immer übertrieben schien, weißt Du längst Geliebte! Du kannst Deinen Kindern Beyspiel sein, und darum kannst Du sie auch erziehen. Und gäbe es etwas was Du bey Deinen Kindern anders wünschest als Du es selbst besitzst, so steht es ja in Deiner Gewalt, es bey Deiner Erziehung zu aendern. Traust Du mir einige Fähigkeit für die Bildung meiner Kinder zu, so wiße, daß mich die Kinder früher erzogen haben. Bey empfänglichen Gemüthern kann es nicht fehlen, daß indem sie erziehen, sie erzogen werden. Deinen Töchtern wünsche ich Dein Herz, Deinem Sohne Deine Festigkeit. Wer so viel |7 wie Du, seinen Kindern mitzugeben hat, der wuchre ja mit seinem Pfunde. Liebe Caroline sey nicht so bescheiden! – - –

Wir sind alle wohl, Antonie ist seit drey Wochen wieder in unsrer Mitte. Iverdüns Luft schien ihr nicht zu bekommen und es wirkte moralisch noch manches mit ein was ihren alten Hang zur Hypochondrie wieder wekte, kurzum, eine sich ihr anbietende Gelegenheit benutzte sie zu ihrer Rükkehr.

Hätte ich alles vorausgesehen, so würde ich an Pestalozzi's eine eigne Weisung gegeben haben, wie mein Pflegling behandelt werden muß, wenn kleine Unpäßlichkeiten – die namentlich während dem feuchten Herbste nicht zu vermeiden waren – sich einschleichen damit der große Riese, Hypochondrie, nicht seine Herrschaft bey ihr anbringt. Antonie ward auf einmahl in eine ganz andre Welt versetzt, in ein köstliches Land und unter ganz: besonders kräftige Naturen. Schon dies war hinreichend sie in einen Grad von Spannung zu setzen der leicht bis zur Exal- |8 tation hinaufgeschwungen werden konnte. Dazu brauchte nur ein geringes körperliches Leiden Aengstlichkeit des Arztes, und die Aermste kam leider in den Zustand, den ich zu bekämpfen hatte, als sie von Schlesien kam. In Iverdün wirkte überhaupt unendlich viel auf Antonie; Ihr sich jedem schönen Enthousiasmus gern hingebendes Gemüth fand ein so weites Feld sich zu nähren, sich zu sammeln daß sie aber auch Welt Erfahrungen hätte haben müßen, um für Contrasten nicht zu erschreken, die sie nothwendig in Pestalozzis' Umgebung finden mußte. Da unterlag aber ihr kindliches harmloses Wesen, als sie sah, daß nur P. heilig und gerecht da stand. Kräftige Männer unterstützen ihn, aber sein Gemüth, sein frommes Herz mögen wohl den meisten fehlen. Unendlich ist Antonie von Vater und Mutter Pestalozzi geliebt, sie glaubten in Antonien ihr einziges verlornes Kind wiederzufinden. Wie diese Liebe auf Antonie wirkte, brauche ich Dir wohl nicht zu sagen.

|9 Hätten nur die Guten nicht geglaubt, Antonie leide an Gott weiß was für Schwächen und Uebeln und ihr selbst bange gemacht, oder vielmehr ihren Klagen zu sehr nachgegeben, so wäre sie noch da und ohne Zweifel so gesund und blühend als sie jetzt hier ist. Es muß etwas herrliches sein, um den seltnen Apostel Pestalozzi zu leben und ihn wirken und handeln zu sehen. Alles was mir Antonie darüber sagt, ist so herzstärkend so erbaulich, daß ich mich wohl recht sehne ihn auch einmahl zu sehen. Ohne Zweifel geht Antonie wieder nach Iverdün wenn sie erst ihre Geschwister sämtlich wieder gesehen und ihre Geschäfte in Ordnung gebracht hat. So theuer sieihr Umgang meinem Herzen ist, so gönne ich ihr doch von ganzer Seele Genüße, die sie bey uns nicht finden kann. Eine sehr wichtige Erfahrung hat sie übrigens für ihren frühern Lebensplan gemacht, nähmlich, daß es nichts schwierigers giebt als Vorsteher eines Instituts zu sein. Nie wäre für Antoniens, durchaus mit den bürgerlichen Verhältnißen des Lebens unbekannten Carakter, die Idee ausführbar gewesen, einem weiblichen Erziehungs Institute vorzustehen. Erziehen soll sie aber nur nicht in einem Verhältniße daß sie |10 ohne Frage erdrüken müßte. In einigen Tagen schreibt sie Dir selbst und da wirst Du noch mehreres von ihrem Schweizer Auffenthalt erfahren. Wir sind alle wohl, Amanda tanzt und singt fleißig diesen Winter, ihre Stimme gewinnt sichtlich jedes Jahr. In Winters köstlicher Oper Timodeo oder die Macht der Töne, da möchte ich daß Du sie singen hörtest. Die Kraft und der Umfang ihrer Stimme – die auch nun weich und malerisch wird – istüberraschen und sind wohlthuend. Aber, Geliebte, könnte ich nur zu Amandas Talenten mehr Weiblichkeit und Häuslichkeit hinzuthun, ach Gott, daran ist großer Mangel. Wo mag ich nur bey ihrer ersten Erziehung gefehlt haben, an meinen beyspiel weniger, dieß darf ich mir zugestehn, aber wahrscheinlich in der Art sie zu behandeln. Ich bin oft sehr unruhig darüber, denn der Mann, – und die Ehe ist doch unsere Bestimmung – frägt erstaunlich wenig nach Talenten aber desto mehr nach Weiblichkeit.

Pauline bleibt sich immer gleich, häuslich und gemüthvoll ist ihr ganzes Wesen. Große Anlagen bemerke ich nicht in ihr, aber viel Liebreitz und einen gesunden Verstand. Die Unterichts Anstalt von Merker gedeiht sehr wohl , und in ihr die |11 Entwiklung der kindlichen Fähigkeiten. Der humane und bescheidne Sinn der über dem Ganzen herrscht erhöht ihren Werth. Mein Reinhold ist ein holder lieblicher Knabe, seine Lebendigkeit und Freundlichkeit mach t en ihn zum Lieblinge der ganzen Stadt. Ich begreife kaum wie der Kleine so wird bleiben können, er ist gar zu hold, wenn ich Dir ihn nur bringen könnte!

Emanuel will im Sommer kommen, komt doch auch Ihr geliebten ewig geliebten Freunde! Richter soll in meinen Garten Hause in unsern schön gelegnen Garten vor dem Thore wohnen, da stört ihn nichts bey der Früh Arbeit und für Bier wird der Himmel auch sorgen. Du wohnst mit den Kindern bey mir und wir wollen froh seyn. Komt, Geliebte im Blüthen und Nachtigallen Monathe, himlisch wäre es, allso erfüllt unsre Bitte.

Gruß und Liebe von Uns Allen, aber an Richtern einen besondern Gruß und Kuß von der alten treuen Henriette. Deine Kinder küße ich herzlich, Pauline sehnt sich so wie wir Alle sie wiederzusehen. Wagner neigt unendlich, bey aller Klarheit und Heiterkeit seines |12 Geistes, verlaßen ihn die körperlichen. Kräfte immer mehr. Mit großer Mühe bringt man ihn täglich auf sein treues Pferd, besuchen thut er niemanden mehr. Es ist der Mühe werth den Edlen so resignirt zu sehn, auch um seinet willen möchte ich daß Ihr diesen Sommer zu uns kämt. Er sehnt sich unendlich, Euch noch einmahl zu umarmen Lebt wohl, Geliebte, auf der Erde liebt Euch niemand mehr als

Eure
treue Henriette.

Zitierhinweis

Von Henriette Schwendler an Caroline Richter. Meiningen, 5. Februar 1810, Montag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0666


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3 Dbl. 8°, 11½ S. Auf S. 5 aolR: 2, auf S. 9 aolR: 3.