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Meiningen den 20ten Januar
1810

Die unerwartete Erscheinung Ihres Bruders , mein theurer Freund, und dazu die erfreulichen Nachrichten von dem Befinden unsrer Freundin und dem Ihrigen, war beydes sehr wohlthätig für mich. Ohngeachtet ich immer von Zeit zu Zeit Nachrichten von Weimar erhielt und zwar beruhigende, so war ich dennoch in nicht geringen Sorgen um Sie allerseits. In der Entfernung erscheint jedes Ding anders und die Gerüchte über die herrschende Krankheit in Weimar mochten wohl zuweilen übertreiben sein. Daß ich meine Freunde Müllers unaussprechlich liebe, habe ich nie lebhafter als in der jüngsten Vergangenheit gefühlt. Aussprechen konnte ich es nicht, weil in den Augenblicken, die Sie am Krankenbette Ihrer Gattin zubrachten, jedes schriftliche MitGefühl Sie nur mehr verwunden mußte, als Ihren Kummer mildern, aber redlich theilte ich mit Ihnen! – – – –

Gottlob, daß Alles vorüber ist, Panzerbieter der sich mit uns freut, meint, es sey möglich, daß nach einer solchen Probe die die Lebenskraft und Lebensfähigkeit meiner Freundin |2 bestanden hat, daß darauf ihre Gesundheit einen ganz neuen Lebensproceß begönne und sie von jenen kleinen nagenden Beschwerden ganz befreit würde. Wie sich unser Wünsche zur That verhalten, darüber sagt mir, mein Freund, wohl zuweilen ein Wörtchen? –

Wie sind alle wohl, Ihr Pathe Reinhold macht mir unendliche Freude, er ist voller Lieblichkeit und Freundlichkeit. Mein Glaube ist recht bestätigt, daß der Schutzgeist seiner edlen Pathen über ihn wacht und sichtbarlich den kleinen werdenden Menschen, in ihm schützt. Ich empfehle meinen Liebling Ihrer Liebe! nicht wahr, Sie halten es für keine leere Formel wenn ich diese Bitte öfters wiederhohle.

Unsre Reisende ist seit acht Tagen von Iverdün zurückgekehrt. Mit Mühe trennte sie sich früher – als ihr erster Vorsatz war – von einem Orte der ihr so mannichfach intereßant wurde. Ihre Gesundheit konnte sich durchaus nicht an die häufigen und Tage lang durchaus dicht über Iverdun verbreiteten Nebel gewöhnen und weniger noch an eine gewiße Nordluft, die Biese genannt. Vielerley Unpäßlichkeiten zogen ihr beyde zu |3 so daß sie, nachdem es beynahe gewiß war, daß sie sich im Winter nicht climatisiren würde, den Entschluß faßte, zurük zu kehren. Wie ich ihre Gesundheit finde – die aber nicht gefährdet ist, – meine ich, daß sie wohl gethan hat. Unendlichen Genuß für Geist Herz und Auge hat sie auf der ganzen Reise gehabt, und daß ihr leicht erregbares jedem schönen Enthousiasmus sich gern hingebendes Gemüth namentlich Iverdun sich wohl gefiel, brauche ich kaum zu versichtern. Mit der kindlichen Liebe und wahrhaft frommer Anhänglichkeit schied sie vom großen Volksbildner und in der That einzigen Menschen Pestalozzi. Es ist mir höchst erbaulich mit ihr ein wenig in das innere Leben dieses Mannes einzudringen, welche Kraft und Hoheit der Seele, und wie ergriff ihn die gesunkene Menschheit! – Wenn man dabey die ungeheuren Schwierigkeiten erwägt die er zu überwinden hatte, wie wenig er vielleicht jetzt noch verstanden wird und hinzu rechnet wie viel und was er geleistet hat, so möchte man ihn für einen Gesendeten halten. Den herrlichsten Beleg zu Pestalozzi’s Carakter liefert die von |4 ihm und seinen Freunden herausgegebne Zeitschrift für Menschenbildung, und das Beste über ihn und seine Identität, sagt ein gewißer Ritter in Gutsmuths Erziehungsblättern. Ritter war lange genug in Iverdün um alles prüfen zu können. Antonie freut sich Sie zu sehen und zu sprechen, kann es nicht eher sein, doch auf ihrer Durchreise in Weimar, wenn Sie im SpätSommer unsre Geschwister in Schlesien besucht.

Es thut mir leid, daß Ihr Musensitz die Princeß Caroline verliert , eine so zarte weibliche Blüthe und so viel Würde, wie kann die ersetzt werden! –

Wagner grüßt Sie mit Liebe und Wärme, sein Körper neigt immer mehr, aber sein Geist steht in einer Klarheit da, die seinem ganzen Wesen etwas überirdisches leiht. Von seinem güldnen A.B.C. verspreche ich seinen Freunden reichen Genuß. Aber warum kann man dieß Leben nicht aufhalten, nicht erhalten? O Gott, diese Frage kann ich mir niemals befriedigend beantworten.

Schwendler schreibt Ihnen selbst, Gruß und Liebe von uns Allen, der Guten Genesnen.

Mit unendlicher Ergebenheit

die Ihrige


Henriette Schwendler

Zitierhinweis

Von Henriette Schwendler an Friedrich von Müller. Meiningen, 20. Januar 1810, Sonnabend. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0777


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Textgrundlage

H: GSA, 68/540, Bl 5-6
1 Dbl. 8°, 4 S.