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Wo soll ich Worte hernehmen, um Ihnen den namenlosen Jammer auszudrücken, worin ich gestürzt bin! O Gott! welch ein fürchterliches Schicksal verfolgt mich, und wie wird sich Alles noch enden! Mein letzter Brief an Sie war vom 9./11. November. Seit der Schreibung desselben habe ich von Ihnen auch weiter keine Nachrichten erhalten, sodaß also wohl morgen mehrere Briefe zusammen von Ihnen eintreffen werden. Aber wo würde ich auch den Muth und die Zeit hergenommen haben, Ihnen etwas sagen zu können? Wo nehme ich ihn jetzt her, am Abend der fürchterlichsten Katastrophe meines Lebens?

Schon in meinem letzten Briefe muß ich Ihnen gesagt haben, daß Minna krank sei. Sie ist es geblieben – sie ist es noch – sie ist – entsetzen Sie sich nicht – sie ist – wahnsinnig! Ich vermag es nicht, Ihnen den ganzen Hergang der fürchterlichen Krankheit zu erzählen. Etwa gegen den 1. d. M. fing es mit einem Gliederreißen an. Aus dem Gliederreißen wurde ein rheumatisches Fieber; dieses artete in ein nervöses aus, es kamen hysterische Zufälle – lebhaftes Phantasiren – Irrereden hinzu, und dies Alles hat mit dem Zustande geendet, den ich Ihnen oben genannt habe, nicht aber nochmal nennen kann. Ob eine Heilung möglich ist, steht dahin, das jetzt Factische ist da, und mir ist jenes unwahrscheinlich – aus psychologischen Gründen. Wir haben täglich die rührendsten und herzerschütterndsten Auftritte, aber auch die entsetzlichsten, wie die wildeste Phantasie sie sich nur schaffen kann. Einer der entsetzlichsten hatte in der Nacht vom Sonntag auf Montag statt, wo außer sonstigen Wächtern Madame Ludwig – ein Engel von Weib – mit mir, der seit 16 Tagen jetzt nicht aus den Kleidern gekommen, die oberste Wache hatte, und wo sie einen heftigen Anfall von Wuth bekam, daß ich in Gefahr war erdrosselt zu werden – daß sie wüthend um sich und Emma in den Hals biß – und nachdem ich eine Viertelstunde lang den schrecklichsten Kampf mit ihr gekämpft hatte, in dem Gott mich wunderbar stärkte, und nachdem endlich Hülfe kam, sechs Männer es kaum vermochten, sie zu bändigen, um sie binden zu können. Diese Anfälle haben sich wiederholt, wenn auch mit minderer Stärke, sodaß wir wieder gewagt haben, zu ihr zu gehen. Heute hat aber wieder ein Zufall stattgehabt, der es mir verbietet und unmöglich macht, wieder zu ihr zu gehen, wenigstens einstweilen nicht. Ein Charakter ihres Wahnsinns war seither die außerordentlichste Liebe und Anhänglichkeit zu mir, sodaß ich durch Zureden Alles vermochte, und meine nothwendigen, wenn auch nur augenblicklichen Entfernungen immer die rührendsten Erscheinungen hervorbrachten. Heute aber, gerade zu Mittag, wo ich mit Emma, einem Wächter und unserm Hauswirthe bei ihr war, bekam sie einen Anfall, der zunächst auf mich gerichtet war, und wo sie auf mich einstürzte, mich anzufallen wagte, und mit geballten Händen auf mich einschlug, daß Ströme Blut mir aus der Nase stürzten. Nur mit Mühe gelang es uns, sie zu binden! Ich sehe sie seitdem nicht wieder und werde es einstweilen nicht thun.

Auch von der Möglichkeit ihrer Genesung abgesehen, könnte Minna doch nie – mein Weib mehr werden. In einer Stunde, die sie glaubte ihre Todesstunde werden zu sollen, hat sie mir über alle ihre seitherigen Verhältnisse die vollständigsten Aufschlüsse gegeben und mir die schriftlichen Belege darüber zu Händen gestellt ! Diese Aufschlüsse machen es mir unmöglich – ihr je meine Hand zu geben! O Gott, aus welchem Himmel bin ich gestürzt! Wie bin ich argloser, gutmüthiger Mensch getäuscht, betrogen, hintergangen worden! Diese Aufschlüsse kann ich Ihnen vielleicht – und nur Ihnen – einst mittheilen, wenn, wie ich wünschen muß, Minna sterben sollte! O Gott – Gott – was habe ich in diesen vierzehn Tagen erfahren, geduldet, erlitten! Welch einen Jammer, welch ein Zerreißen in meinem Innern! Diese fürchterlichen Entdeckungen in Minna's Geschichte haben aber auf mein äußeres Benehmen gegen sie in ihrem Unglück ebenso wenig Einfluß gehabt, als sie mich auch sonst nicht bestimmen werden, wenn sie leben bleibt, meine Hand von ihr abzuziehen. Aber für mich ist sie für immer verloren! Denken Sie sich zu diesen meinen Empfindungen nun auch die über ihren jetzigen Seelenzustand oder ihre Krankheit! Ich bin der unglücklichste aller Menschen!

Unser bürgerliches Verhältniß ist regulirt durch ihr Testament, das sie ein paar Stunden nach jenen Entdeckungen machte, und durch einen Rückkauf.

Sonst ist durch diese Vorfälle Alles in Stocken gerathen, und kein Circular weder ausgegeben, noch sonst das Geringste gethan worden. Sie können sich die ganze Verwirrung denken ....

Adieu, guter Schmidt ! Gott stärke Sie und mich!

Ihr unglücklicher Brockhaus.

Zitierhinweis

Von Friedrich Arnold Brockhaus an Friedrich Bornträger. Altenburg, 21. November 1810, Mittwoch. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0938


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Textgrundlage

D: Brockhaus, Leben 1, S. 200–201 (unvollständig).