Von Heinrich Voß an Christian Freiherr Truchsess von Wetzhausen. Heidelberg, 31. Dezember 1810, Montag
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Wie froh hat mich Dein Brief gemacht, herrlicher Alter! Ich kann Dir nicht beschreiben, wie während des Lesens Freude und Wehmut in mir wechselten. Als ich zu Ende gelesen, stand mein Auge in Thränen. Ich überdachte so recht in seliger Stille die verlebten Tage in Stuttgart, und fühlte mein Glück, das mich Dir, Du Einziger, entgegengeführt hat. Dann und wann zu schreiben, hatte ich mir vorgenommen; jetzt, da Du Briefe sogar foderst, wohl mir, daß ich nun desto öfter schreiben darf.
Und der erste sei noch vom alten Jahre! Es war doch ein gutes Jahr, und ich nehme von ihm Abschied wie von einem Freunde, der nie wiederkehrt.
Du bist krank gewesen, Theurer? O warum war ich nicht bei Dir, um Dich zu pflegen, bei Dir zu wachen, Dir vorzulesen! Daß ich dies aus dem Grunde verstehe, wußte Schiller, der mich so gern in den schlaflosen Nächten seiner Todeskrankheit bei sich hatte. Gottlob, Du bist wieder hergestellt.
Wie soll ich es Dir danken, daß Du meine Eltern so lieb hast! Doch dafür soll ja nicht gedankt werden. Es ist ein unauslöschlicher Glaube in mir, daß Liebe ohne Gegenliebe nicht denkbar, ein Unding ist. Liebe ist die Wechselwirkung zweier gleichgestimmter Gemüther; sie ist von dem Augenblicke an, wo sie aufkeimt, ewig. Und wie tröstlich ist dieser Glaube! Er verbürgt mir die Unsterblichkeit meines besseren Selbst. Noch in diesem Momente liebe ich Schiller und meinen Onkel Boie, wie da sie unter uns wandelten. Bliebe diese Liebe vom Reiche der Geister her unerwiedert, oder gäbe es gar kein Reich der Geister nach unserm irdischen Treiben; so müßte auch ich aufhören zu lieben, und ich fühle, das kann ich nicht. Wo sie auch sein mögen die geliebten Vorangegangenen, in meinem eignen Herzen finde ich die Überzeugung, daß nicht ewige Trennung, und noch weniger Vernichtung uns bevorsteht. Die Liebe ist das Band im Universum. Durch Liebe schauen Freunde auf einander über die weite Kluft des Todes; die Liebe knüpft Nationen, die längst dahin sind, an gegenwärtige; und es ist gewiß mehr als poetischer Glaube, wenn ich meine, Homer müsse noch einmal mit meinem Vater, Shakspeare mit Göthe, Schiller, Öhlenschläger vereint werden.
Und damit Gruß und Kuß zum neuen Jahre!
Zitierhinweis
Von Heinrich Voß an Christian Freiherr Truchsess von Wetzhausen. Heidelberg, 31. Dezember 1810, Montag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1091