Von Paul Emile Thieriot an Emanuel. Leipzig, 29. Oktober und 6. November 1801, Donnerstag und Freitag

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Leipzig, 29. Okt. v. da ich alle Tage schrben wollen6 Nov. 1801 da ich schrieb.

Meine Schwester würde die Sprünge beschreiben können, die ich am vorletzten Donnerstag mit dem Bayreuther Brief in der Hand vor ihr machte, den ich nachher auch las. –

O Du Herz! Kannst Du mein unreines annehmen, wenn Du es durchschaust? Und daß es sich nicht verbergen möchte, wenn es auch könnte – [...]wirst Du ihm auch das, sowie diese Reflexion, zur Tugend anrechnen? Ich wünschte selber, es wäre die hohe starke Idee von Freundsch Wahrheit, aber ich fürchte, es ist liegt in meiner zerstört fortzerstörenden Natur, daß ich in der Freundschaft keine Schonung kenne; daß – wenn auch ein solches Verschweigen meinem Freund den höchsten Genuß der Freundschaft schaffen könnte, und da ich weiß, wie die Menschen einsam sind – ich es darum doch ohne Schonung sagen m ü u ßte "Sie irren sich in der Person."

|2 Ich habe meine Liebe immer verschwendet gehabt – die 1ten Male doch an eine Art von Gegenliebe od. Gegentäuschung (das alte Wortspiel für Seelentausch) – dann Jahrelang buhlend um den Verächter Hermann – dann lernt' ich ebenfalls meinerseits verachten, und verlernte die Liebe – Wird Deine mir sie wieder lehren?

O verzeih, wenn ich nicht genug Seyn zu haben glaube, um Dir wiederzugeben!

Mit gar zu bescheidnen und erkenntlichen Leuten ist nicht zu leben. Im Ernst, was gab ich Ihnen durch seinen Mund mein Kopf, was Sie nicht, und zwar entwickelter, gehabt hätten??

Ausgenommen beim Streit über Alleweile, womit wir uns die kurze des letzten Abends verkürzten u. wobei ich Recht hatte. Tout-à l'heure .

|3 Apel grüßt, und wünscht Sie noch hier. Ich traf neulich im Conzert (an das ich mich nun für diesen Winter versprochen habe) beim Herausgehen mit ihm zusammen. Er war einige Tage brustkrank gewesen. Ich ersuchte ihn auf der Treppe, da mir wirklich bei s. Asthma bange um ihn ist, leben zu bleiben. "Was man davon hätte? Uebrigens könne kein Mensch die Unsterblichkeit gewißer glauben als er." Nämlich nicht des Individuums, setzt' ich ebenso fest hinzu, und hatte ihn durch das Wort ordentlich gewonnen, wie ichs für seinen Glauben schon war. "Kein ärgerer Unsinn als Ewigkeit der Individualität, Apeltät pp" unisonirten wir beide. – Und doch, fiel mir drauf ein, (was meinst Du von dem, Emanuel, dem dergleichen einfällt?) warum sollt' es nicht eine Idealitäten für das Individu um en geben, und wo bleibt geht zum Henker in der Ewigkeit die Kantische Schönheit hin, als zum Henker, wenn das nicht ist? Was denkt Ihr?

– Wahrheit ist freilich Anfang u. Ende, aber Schönheit ist Unendlichkeit. Warum ist mir ein schönes Bild des Lebens, das ich früher selbst fand, im J. P. in Jacobis Taschenbuch für 1802 S. 213 wieder |4 zu finden , mehr fatal als die Erkennung des gleichen Sinnes erwünscht? Ich glaube mit Recht darum, weil ein solches SichWiederholen der Natur ein Eingriff Raub an meiner Individualität, ist u. die Welt der Melodie groß genug ist, daß in der Einen Harmonie Jeder anders pfeifen und selber im 1000stimmigen Satze stimmfähiger Menschheit die fehlerhaften Oktaven vermieden werden können.

Ich lerne sie gegenwärtig bloß an 4stimmigen vermeiden d. h. ich treibe die Composition u. sie treibt mich mit solchem Eifer, daß ich vornehmlich darum diese Tage her nicht zum Schreiben kam. – Wer die Flügel der Zeit beflügeln will, der theile sie in Takte u. fülle sie mit Tönen od. mit Noten.

Warum schickten Sie mir den Brief an die Goldschmidt unversiegelt, u. schrieben nur: besorgen Sie pp Ich hab ihn ungelesen besorgt mit wahrem Verdruß. – Sie wollte von Halle, woh er in sie v. hier auf 8 Tage ging, noch auf ebensolange nach Braunschweig mit u. zu Viewegs. Sie müßte also schon wieder in Berlin seyn. Auf allen Fall hab ich uns. Brf (ich couvertirte ihn selbst mit ein paar Zeilen) zugleich mit an die Sandersche Buchh. adreßirt. – Ihre Ueberraschung für Sie durch den zuvorkommenden Brf hat sie mir vertraut. – Ueberhpt hab ich sie mehr schätzen lernen als sie ihr mich kennen gelehrt. – Zur Mahlm. begleitet' ich sie 2 mal vergebens, sie war nicht zu Hause. –

Wenn Ihr den Winter nach Berlin geht, so müßt‘ Ihr ja hier durch? – Wenn ich nach Bayreuth komme [...], bleibt der blinden Vorsehung überlaßen.Sonderbar! Ich haße die Gaben des Zufalls, als solche, u. verachte doch, ihn zu leiten. – Weißens, die ich eigenmächtig gegrüßt, grüßen wieder, der Alte etwas weitschweifig, wie es nur Herzlichkeit darf. Schreiben Sie Richtern statt meiner, od. laßen S ihn lesen. Ich habe doch im Grunde nichts geheim vor ihm. – Meine Schwestern denken an Dich, Du ewiger Jude. Grüß' Otto. –

Zitierhinweis

Von Paul Emile Thieriot an Emanuel. Leipzig, 29. Oktober und 6. November 1801, Donnerstag und Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1231


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Textgrundlage

H: Slg. Apelt,
1 Dbl. 8°, 4 S.

Überlieferung

Hk: BJK, Berlin V, 243
1 Dbl. 8°, 4 S. Auf S. 1 am oberen linken Rand von Karl August Varnhagen von Enses Hand: Emanuel.

D: Abend-Zeitung, Nr. 1, 2. Januar 1843, Sp. 4–6 (unvollständig, ungenau).


Korrespondenz

B: Von Emanuel an Paul Emile Thieriot. Bayreuth, 27. Oktober 1801
A: Von Emanuel an Paul Emile Thieriot. Bayreuth, 28. November bis 1. Dezember 1801

Offenbar hatte Thieriot am 29. Oktober 1801, direkt nach dem Erhalt von B, nur das Datum geschrieben.