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Paris 13 Febr. 1803

Ich bin nie aufgelegter zum BriefSchreiben als wenn ich einen Brief zugesiegelt und abgefertigt habe . Damit bin ich einen Quaderstein vom Herzen los, und fühle mich leicht und frei und frisch zur Unterhaltung mit dem Freund.

Diesmal hab ich noch einen besondern Bewegungsgrund und Boden: Du sollst mir erlauben, auf dieses Blatt einen Brief zu exzerpiren, welches ich sonst für mich thun würde, den ich eben an meinen Otto und Oberamtsrath v Manteuffel in Lübben geschrieben.Ob etwas unter Deinen od. meinen Papieren liegt, das ist mir in dieser Nähe fast einerlei.


"– Ich habe Deinen Brf v 6. Sept. v. J. vor mir, als hätt' ich ihn erst seit gestern, aber Du hast ihn freilich nicht ebenso gegenwärtig mehr.

Du schilderst den [...] Zustand der Gereisten: "dann hat vielleicht der Geist doch das unaufhörliche Berühren verschiedener Gegenstände die innere Kraft verloren sich selbst zu genügen" Es ist freilich eine Probe aber darum desto besser, od. allein gut, wer sie besteht.

|2 Wenn werd' ich einig werden mit mir selbst?" In dieser Zeitlichkeit nun wohl nicht: wenn Du im praktischen meinst. "Wenn werd' ich wissen was ich will?" Das ist schon eher zu machen u die Antwort liegt im Grund in der vorigen Frage. Nach Einheit streben müssten wir immerfort u das steht schon in allen Kompendien: aber das innre musikalische Ohr für jede Dissonanz der Seele u für den festzuhaltenden Grundton, das, scheint es fast, will angeboren seyn. Du aber übst es nur nicht recht.

Koordinirst Du nicht zu sehr, sprich, alle Deine heterogenen Stimmungen in Eine Reise, statt sie einander überdinirt zu empfinden, je nachdem sie sich von dem ewigen Dreiklang, den man sey es auch noch so selten, doch manchmal im Fluge zu hören bekommt, entfernen. Nenne diesen Dreiklang Selbstherschaft, Besonnenheit, das höchste Wachen u Seyn , u. erlaube mir, alle jene dis- od. halbharmonischen Zustände in das homerische Land der Träume zu verweisen. Der gefährlichste darunter ist wohl der der Abspannung (gleichsam des Schlafs) da man sich einen andern bessern nicht einmal mehr als möglich denken kann.Aber |3 darum muß man Religion haben d. i. der Glaube daß etwas da sey, wiewohl wir es eben nicht fühlen , u. die Bekenntniß daß man im Ganzen der Natur immer nur ein elendes Individuum sey. Dann nimmt man seine miserabeln Tage u Wochen, deren der Beste hat, mit Resignation hin, u. vermehrt sie nicht durch freiwilliges Murren, vielmehr leitet man die Reflexion von diesem Unschönen ab, u. sucht es zu vernichten durch Vergessen.

Es will mir überhaupt immer wahrscheinlicher werden, daß ich die wahre menschliche Weisheit attrapirt habe – den Schimmer ihres Saums mein ich – Nur wird es mir unendlich schwer, sie alle Augenblicke überall bei mir zu führen , . Wie eine neue Uhr laß ich sie auf jedem Abtritte liegen.Ja, oder vielmehr sie hat an mir einen jungen Hund, der noch nicht abgerichtet ist u. oft andern Hunden nachläuft. Meine Künste bis jetzt, die ich Dir anpreisen will, u die ich fast kann, sind blaß, mich über alles Geschehene u. Unabänderliche schnell zu resolviren u so auch unnütze Reue zu tilgen, kein Klagen an mir zu dulden als ein melodisches u das allgemeine u. mich lustig zu erhalten aus bloßer Lust an Lust.

|4 Laß uns noch in Deinem verklagtenverklagten Berufe nachsehen. Entweder Du bist darin oder nicht, so ist es freilich ein Schlimmes Schiksal, aber dann mußt Du Dir ihn nach u nach so mechanisch u auswendig zu machen wissen, daß er Deinem innern poetischen Leben nichts anhaben oder nehmen kann als Zeit. Und Zeit ist ja beinahe nichts.

Willst Du diese ganze Consolationem nicht gelten lassen, (die überdem für den Manteuffel vom Septemb. zugeschnitten ist) so kannst Du sie meinetwegen so wie auch die Ciceronische für interpolirt halten von irgend einem Sophisten."


Weil es aber einerlei ist, wie ich sagte, oder vielmehr weil es nicht ganz einerlei seyn möchte für den Briefgestallter, will ich mein Excerptum für mich behalten bis auf weiteres.

Leb darum doch wohl, Emanuel Ich schreibe Dir in Gedanken.

Zitierhinweis

Von Paul Emile Thieriot an Emanuel. Paris, 13. Februar 1803, Sonntag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1264


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin V, 243
1 Dbl. 8°, 4 S. Auf S. 1 aoR vfrH mit Bleistift: An Emanuel.


Korrespondenz

Nicht abgeschickt, vgl. Emanuels Präsentat auf S. 4 unter dem Brief: pr. in Bayreuth., eigenhändig 16t Aug 3.