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Königsberg, den 22 Februar 1808.

Lieber, geliebter Emanuel! Seelig sind die Toden, die in dem Herrn ruhen; denn ihre Werke folgen ihnen nach. Zu manches, und zu der besten Menschen Leben gehört der Tod, der ihre Vollendung hervorbringt; weswegen die Sprache so schön den Tod eine Vollendung, und die verstorbenen Frommen, vollendete Gerechte nennt. Obwohl zu Aller Menschen Leben der Tod als ein wesentlicher Theil gehört nöthig ist , weil er am deutlichsten – indem er die Lebens-Rechnung abschließt – zeigt, was der Mensch war: so dürften oder sollten doch, eben damit dies nicht sichtbar würde, manche Menschen, irdisch, ewig leben, weil kein Zug des Himmlischen an ihnen ist, was nur diejenigen bewähren müssen, die zu einem geprüften Leben die lezte Prüfung, den ruhigen Tod, als zu einer Reihe schöner Handlungen die lezte hinzuzusezzen haben. Wer unter Leiden gelebt hat verdient, einen schönen Tod am meisten, um nach langem, ruhigem und festem Dulden, durch das lezte, eine lange Ruhe zu finden.


Ich habe so eben einen Brief von Ihnen erhalten, der mir unvermuthet in die Hand kam, als ich als Amönens Brief las. Ihr Brief liegt noch uneröfnet vor mir. Ich schrieb, nachdem ich Amon. Brief gelesen hatte, das Obige |2 und will nun den Ihrigen eröfnen.


Mitwoch, den 24 März. Als ich neulich Ihren Brief gelesen hatte und dann weiter schreiben wollte, wurde ich durch eine Arbeit gestöret, und legte daher das Blatt auf die Seite. Weil ich nun, als Begleiter zu diesem, mehrere Blätter schrieb: so ließ ich es in der verzögerten und verzögernden Hofnung liegen, daß ich alle mit einander früher würde ü a berschikken können.

In Rüksicht des Lebens und Sterbens theile ich jezt die Menschen in zwei Klassen ein. Da wir nemlich gegenwärtig alle unter den fortdauernden Geburts-Schmerzen der künftigen Zeit leben: so preise ich jeden Menschen glüklich, welcher stirbt und dadurch der Theilnahme an de m n jezzigen allgemeinen Leiden entgehet, im Fall er schon so alt ist, daß er keine Hofnung mehr haben kann, wenigstens die Aurora einer bessern Zukunft – wenn auch unter einer zu kühlen Morgenluft – in der Ferne zu erblikken. Nur diejenigen, welche diese Hofnung haben dürften, und die sich durch einen frühzeitigen Tod von ihr losreisen müssen, scheinen mir beklagenswerth zu sein. Denn sich und die Welt umher, will doch jeder zu einiger Vollendung kommen sehen und beides nicht in der Mitte auf dem Wege zum Ziele stehen lassen, so lange ihm der gewöhnliche Lauf der Natur die Hofnung auf ein längeres Leben nicht ganz versagt; ob wir wohl immer vergessen, daß zu welcher Zeit wir |3 auch abtreten, wir Alles in mit ein er ewigen Mitte stehen lassen müssen.

In den zwei Jahren unserer Trennung – wahrscheinlich werden sie größtentheils zu Ende gehen, ehe ich Sie wiedersehe – was hat sich nicht Alles mit und in uns geändert! und wie sind wir dahin gebracht worden, überal andere Umgebungen, andere Ansichten der Sachen, andere Lebens-Anstalten und neue Einrichtungen und Menschen, nur ewige Zubereitungen und fast keine Hofnungen gefallen zu lassen. Die sind glüklich zu preisen, die durch frühere, von der Zeit unabhängige, Vollendung diesem neuen Anstalten-Machen in und außer uns entgangen sind. Wären überhaupt nicht Hofnungen und Wünsche jezt thöricht: so dürften die Andern, welche zu dieser Tantalus-Arbeit in und für diese Welt fortwährend verurtheilet sind, wünschen, daß ihnen die kleine Welt ungestört gelassen würde, die um jeden das Haus, die Familie und die Freunde erschaffen, damit sie, behalten sie diese, desto leichter in, mit und neben ihr, sogar freudig, die unvermeidlichen neuen Anstalten machen mögen. Aber; und dieses Aber ist es ja eben, was uns seit fast zwei Jahren zur fortwährenden neuen Aufgabe dienet.

Für die Zukunft leben, als könnten wir ihrer sicher sein, und dennoch von ihr nichts hoffen und den Augenblik ergreifen, als gäbe es |4 keine Vergangenheit und keine Zukunft, das ist das Einzige, was uns übrig bleibt.

Ich preiße Sie glüklich wegen Ihrer eigenen Er h g ebung, wegen des überaus, und rührend schönen, und Achtung einflößenden Bezeigens Ihres Vaters, wegen der Ahnung, die Ihr Bruder von Ihrem eigenen Sinne hat und zu zeigen sucht; aber in dem Grade, wie mich Ihr lezter Brief durch Sie erhoben hat, haben es die frühern nicht gethan; und es schien fast, daß Ihr, sonst ungebeugter, Muth, mehr gebeugt war, als er es sollte.

Die Menschen empfangen leider! jezt alle neue Aufgaben; und der Feind drang feindselig in Ihr leztes – heilig sollte es sein – Asyl gegen die Welt. Die Schmerzen, die auf Ihrem Herzen lagen, daß der Feind nicht den Freund verstehen wollte, preßte auch mein Herz ein; aber, Emanuel! unter dem Vielen, was ich Ihnen zu erzählen oder zu verschweigen haben werde, gehört auch das, daß man im Krieg überal mit Gewalt, die das Recht und das Rechte augenbliklich diktirt, weiter ausreicht, als mit dem Vertrauen auf menschliche Gesinnungen, die zulezt auch als eine Beute, und von wenigen höchstens – aber nicht mehr – geachtet werden, wie eine Prämie zu einem rechtlichen Lotterie-Gewinn. Wie oft suchte ich diese Gesinnungen |5 unter Nicht-Feinden mit der größten Geld-Verschwendung zu erkaufen, und konnte nicht so viel erhalten, als die willig empfingen, die nicht den guten Willen, sondern nur den befürchteten Zwang der Gewalt für sich sprechen ließen. Feindseligkeit unter Freunden und Feinden wird zulezt im Krieg das einzige vorhaltende Prinzip. Wenn ich freudig die hellen Punkte meiner noch fortdauernden Wanderschaft heraushob: so gab es doch auch entgegen gesezte und gerade diese sind's, die mir Ihre Schmerzen über das fast Allgemeine doppelt empfinden ließen.

Vor der Zukunft verschließe ich mir recht absichtlich die Augen und Sorgen, die zu nichts helfen. Ich bin fleisig und dadurch sehr von der Welt abgesondert und fast vergnügt. Das Ende der Preuß. Dinge geht unaufhaltsam vor sich, und dadurch nähert sich auch das Ende meines Antheils an denselben täglich mehr, so daß ich ihn es nach der Rükkehr des Pr.Prinz Wilhelm von Preußen. voraussezzen kann. Um in Zukunft vor eigenen Vorwürfen sicher zu sein, warte ich dieses Ende ruhig ab.

Der beiliegende Aufsaz über die Prß. Finanzen enthält zwar einige (wie ich glaube) neue Ideen, hat aber eine Weitschweifigkeit, über die ich nicht Herr werden konnte. Streichen Sie aus; ändern Sie; thun Sie damit, was Sie wollen. Geben Sie ihn zulezt an Am. ab. Kann |6 er bald gedrukt werden: so ist es mir lieb. Ich habe noch einige Arbeiten vor und zum Theil schon vorgearbeitet; der Himmel mag geben, daß es besser geräth, und nicht blos die Freude oder Unterhaltung oder das Nachdenken gewährt, das ich habe, wenn ich es mache! Wer aber kann, bei allem guten Willen, mehr thun, als er vermag? Den beiliegenden Aufsaz würde ich dennoch haben hin und verbessern und verkürzen können, wenn ich nicht zu sehr geeilet hätte, ihn abzuschikken. Er ist an und für Sie, und in stetem Andenken an Sie geschrieben, und will Sie zum Richter haben.

Daß Max und Emma (diese in einem Brief der Am. ein nie recht klares / klare Emma) an mich geschrieben haben, hat mich sehr erfreuet, und ist ein Beweis einer Wahrnehmung, die zwar in der Levana nicht stehet, aber doch wahr ist; daß moralisch-gute Naturen – es giebt von Natur moralische Genies und Talente – durch die Fehler ihrer Eltern nicht verdorben, sondern vielmehr sich selber zugewandt werden, daß die Fehler der Eltern die Tugendlehrer der Kinder werden. Da mir Richters Kinder so schön geschrieben haben, darf ich mich daher nicht wundern, daß mir ihr Vater nicht schreibt ; aber daß er sehr unrecht daran thut, und daß ich ein solches Unrecht nie verdient habe; daß seine Levana sehr, sehr |7 gut, und daß er bei alle dem noch besser ist; daß ich sein Unrecht immer tief fühlen und ihn demungeachtet immer und ewig lieben werde, ihn und die Seinigen, das weiß ich gewiß. Küssen und grüßen Sie daher Vater, Mutter und Kinder.

Also vor Ende des zweiten Trennungs-Jahres hoffe ich Sie wieder zu sehen und zuvor Ihnen noch einen Aufsaz zu übersenden. Ich werde täglich, so lange ich daran mache, bei und mit Ihnen sein.

Sonntag, den 27. Heute las ich in der Corinna: L'ame des justes donne, comme les fleurs, plus de parfums vers le soir.

Wie kalt ist es noch hier und wie sucht noch täglich die rauhe Luft alle Frühlings-Ahnungen zu verwehen!

Gerade erfahre ich, daß ich mein Päkchen pakken soll, damit es bereit sei, von dem auf den Abgang wartenden Kourier mitgenommen zu werden.

Je weniger ich, außer den längsten Briefen an Sie, schreibe, desto mehr werde ich zu erzählen haben. Die Zeit dazu nähert sich und ich sehe ihr mit Freuden und mit Freudigkeit entgegen. Wer dürfte so ungerecht sein sich vor der Zukunft zu fürchten, wenn er an die Gegenwart und Vergangenheit so viele Danksagungen zu richten hat!

Wir werden uns wieder sehen. Grüßen |8 Sie Alles herzlich! Ihren Vater und Bruder, unsern Uhlfelder und die Seinigen, Alles, was ich liebe und achte!

Leben Sie wohl und froh und heiter, mein ewig geliebter Emanuel! Eingedenk sind und bleiben Sie gewiß Ihres

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Zitierhinweis

Von Georg Christian Otto an Emanuel. Königsberg, 22. Februar bis 27. März 1808, Montag bis Sonntag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1288


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Textgrundlage

H: ehemals Slg. Apelt,
2 Dbl. 8°, 7¼ S.


Korrespondenz

Präsentat über dem Datum: 16 Mai beantw. | do 24. —. Emanuel hatte den Brief mit dem beiliegenden Manuskript an Jean Paul weitergegeben, vgl. dessen Brief vom 30. April 1808 an Emanuel.