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Stuttgart den 21 Aug. 1807.

Ich habe, lieber Thieriot! Ihre absagenden Blätter sämtlich richtig erhalten, aber sie bekommen erst von heute die Antwort, theils weil ich auf einige Anfragen bei Wächter keine bekam, theils weil mir Zeit fehlte. Ich hatte an Wächter geschrieben , daß Sie nicht können, und daß und wie Sie Sich dem Orchester ersetzen wollten. Er scheint piquirt, und will von den angetragenen Subjecten um Deswillen keinen Gebrauch machen, weil Danzi für die Organisation der Kapelle selber sorgen will. Die Entre-Actes und die gestochene Partitur vom Idomeneo wird er mit Dank annehmen – die Zahlung auf jede Ihnen beliebige Art entrichten.

Ich habe der Aufführung der Montalban zwar nur mit halben Ohren beigewohnt; aber kaum habe ich glauben können, daß das Orchester unter Danzi aus den nämlichen Individuen bestehe, welche das Orchester unter Knecht bildeten. Auch die Sänger waren und sind sehr mit ihm zufrieden. Demoiselle Schmalz ist hier angekommen, und wird 3 Monate bei uns bleiben. Worin sie auftreten wird, ist mir noch unbekannt.

Ich habe allerdings den Wunsch, meinen Fritz einst, wenn er der mütterlichen Pflege leichter entbehren kann, in einem Pestalozzischen Institute erziehen zu laßen. Doch bin ich der Mutter, die mir den Sohn gab, schuldig, zuvorderst ihre Abneigung gegen eine Trennung von ihm durch Gründe zu besiegen. Diesen Sieg werde ich aber nur an Ort u Stelle erfechten. |2 Dann kommt alles darauf an, ob es noch ein Institut giebt, bei dem der liebende Pestalozzi selber wirkt, oder doch ob ein solches, das er mir selber als seines declarirt. Sein Geist und Gemüth geht zu leicht verlohren, weil sein Wort so leicht gelernt ist. Auf jeden Fall – nur nicht im ersten – muß auch ich selber sehen. So viel ich aber neuerlich von Pestalozzi habe erfahren können, sucht er vom Gouvernement die Stelle eines Lehrers in irgend einem Waisenhause. Auch er scheint den wahren Werth seiner Kraft u ihre eigentliche Bestimmung zu verkennen, wenn er selber Kinder erzieht, statt Lehrer zu bilden. Es giebt für ihn nur einen Wirkungskreiß, wie seine Lehre fortleben soll – und dieser liegt in einem Schulmeister-Seminarium für Männer und Mütter. Alles beruht in seinem System auf der Mutter; drum müßen vor allen Dingen Mütter gebildet werden. Sonst giebts künstliche Menschen-Fragmente, aber keine ganze Menschen.

Sein System hat in Spanien nach neuern Nachrichten einen bewundernswürdigen Fortgang. Er ist nahe daran, ganz allgemein für die Volksschulen als Norm zu gelten. Für die Militairschulen gilt es jezt schon als solche. Der Friedensfürst hat sein Portrait an Pestalozzi zum Geschenke geschikt, um ihm für seine Lehre zu danken. Gertrud liegt vor ihm; und alles im Gemälde spricht Dank durch Anwendung.

Ich besitze die Wochenschrift nach der sie fragen. Sie ist verliehen; aber ich habe sie reclamirt, damit Sie sie, nebst meinem Canapé mit oder ohne |3 Betten bei mir finden, wenn Sie mich auf Ihrer Reise nach der Schweiz besuchen, wozu mir Ihre Blätter Hoffnung machen. Soll ich Ihnen Ihre Geige und Sachen schicken, oder was soll ich sonst damit? –

Noch eins über die Wochenschrift! Ich habe u kenne nur das erste Heft: und zweifle, daß es ein zweites gebe.

Meine Julie ist zwar noch sehr von ihrer Krankheit angegriffen; aber doch ist sie mir gerettet. Die Krafte wird die Zeit bringen. Meine Frau ist nicht wohl; aber ich sehe in ihrem Uebelbefinden nur eine gewöhnliche Folge der Schwangerschaft in gewißen Perioden.

Berg ist mir sehr lieb; und es ist mir daher leid, daß ich meine Zeit so ungleich zwischen Stuttgart u Berg theilen muß.

Leben Sie wohl!

Wangenheim

Haben Sie noch nie bemerkt, daß sich der Mensch gewöhnlich für etwas gebohren glaubt, wozu er kein Talent hat, und dagegen das wahrhaft angebohrne gar nicht achtet und nuzt? Ich kenne Dichter, die sich Mediciner; Advokaten, die sich Dichter; Soldaten, die sich Staatsmänner; Staatsmänner, die sich Feldherrn glauben – und alle glauben sich etwas, was sie nicht sind.

Zitierhinweis

Von Karl August von Wangenheim an Paul Emile Thieriot. Stuttgart, 21. August 1807, Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1771


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin V, 273
1 Dbl. 4°, 3 S. Über dem Brief vfrH: Wangenheim.