Von Caroline Richter an Josephine von Welden. Bayreuth, nach dem 11. Oktober 1823

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|1 A Son Excellençe
Madame la Baronne
de Welden.

Hochverehrte!

Wenn man so glücklich ist schriftliche Worte von Ihnen zu erhalten , darf man es wohl wagen, Ihnen zu danken so besorgt ich bin Ihre kostbare Zeit durch Unbedeutendes zu unterbrechen. Allein ich kann Ihrer Frage über meines Mannes Urtheil vom jungen Dichter , heute etwas so Bestimmtes überliefern das mich wegen meiner Freiheit Sie durch diese Zeilen zu stören, rechtfertigt. Es ist nemlich der Brief selbst den nach der Übersendung der ersten Ghaselen, mein Mann ihm schrieb ; ich habe aus dem Briefbuche meines Mannes ihn wörtlich abgeschrieben. Das gestrige Gedicht welches ich unerwartet in der Urania fand , wollte ich Ihnen nur deshalb mittheilen weil uns neulich die zweite Sammlung persischer Form nicht genügte, und ich selbst eine große Freude hatte in dem Prolog an Göthe einen anderen sehr ernsten Sinn walten zu sehn. Besonders befriedigten mich jene Verse :

"Und stelltest dar, mit wahren großen Zügen,
In welchen Abgrund die Begierde führet
Wenn das Gefühl sich nicht vermag zu fügen
Und wenn der Geist nach dem Versagten spüret,
Und was, begabt mit Frohsinn und Genügen
Dem deutschen Volk, dem redlichen, gebühret
Bei dieses Taumels schwankender Empörung
Zu fliehen, zu verhüten die Zerstörung.

Und überall, im reichergossnen Leben,
In tausendfachen Bildern und Gestalten"
Die bis herunter in ihr kleinstes Weben
Mit demuthsvoller Wahrheit sich entfalten,
Hast Du der Lehren, Größeste, gegeben:
Im eignen Kreise müsse jeder walten;

Und überall umschweb' uns der Gedanke:
Wer Freiheit sucht, der suche seine Schranke.

Und wie sehr ist dies nicht in Ihrem Geiste, Beschützerin des Maaßes! Deren schönes Streben Gleichheit und Mitte hervorzubringen durch Dämpfung oder Belebung der Urtheile über Charaktere ich mit Bewunderung wahrnehme, eine wahre Adrastea, wie Herder sie uns aufgestellt hat.

Verzeihen Sie mir Hochverehrte! deren Gebete um ein glückliches schmerzenfreies Jahr für die herrlichste Seele die zu groß für irrdische Leiden ist Niemand heißer fühlt. Und der Erhaltung des Glücks Ihres ganzen Hauses lange fröliche Dauer!

Ihre
Caroline Richter.

Zitierhinweis

Von Caroline Richter an Josephine von Welden. Bayreuth, nach dem 11. Oktober 1823. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0269


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Textgrundlage

D: Ernst Vincent: Unbekannte Briefe von Jean Paul und seiner Frau Caroline, in: Euphorion 29, 1928, S. 406f.

Überlieferung

h: DLA Berend, Mappe 12
2½ S.


Korrespondenz

Zur Datierung: August Graf von Platen hatte am 11. Oktober 1823 ein Exemplar seiner "Neuen Ghaselen" an Jean Paul geschickt. Erste Rezensionen der "Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1824" erschienen schon Anfang Oktober 1823, so z. B. in ZeW, Nr. 197 vom 9. Oktober 1823, Sp. 1577f. Der Brief könnte also bereits aus der zweiten Oktoberhälfte 1823 stammen.