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Es ist ein unschicklicher Vergleich, aber oft kam er mir vor unter der Menge von weiblichen Personen, die ihre Anziehungskraft an ihm versuchten, wie die Hühner, denen die goldfarbne Gerste ohne Makel zu Haufen vorliegt, und die ein Korn nach dem andern anpicken, und wieder fahren lassen, und wieder nach einem bessern suchen, Ueberall hielt er das seltsame Gesetz, die ihm am werthesten gewordenen Häuser nicht über zweimal zu besuchen, mit eiserner Festigkeit; nicht die rührendsten Bitten, nicht die Pflicht der Höflichkeit, konnten ihm zum dritten mal hinführen. Es ging den liebenswürdigsten Frauen so. Wenn er sie auch im Reize des Momentes als noch so anmuthig, als ihm ordentlich angehörend gepriesen, und in sein Wesen verschmelzen lassen; so würdigte er sie doch nur wie eine Blume einmal und noch einmal des Ansteckens um sie dann mit neuen zu vertauschen, ohne es zu bedauern, sie nicht mehr zu haben. Wie muß es erst den Männern ergangen seyn! – Welche Todesangst litt ich oft, wenn er etwa manche dargebotene Hand gar nicht ergriff und diese unberührt wieder sinken mußte; oder andere, die ihm vorgestellt sein wollten, Minuten lang hinter seinem Stuhle reden ließ, ohne die Stellung zu verändern, die ihrem Annahen hinderlich war. – Was sind aber diese kleinen Unarten gegen den gerechten, klaren, immer begütigenden mitleidsvollen Sinn, der in dieser außerordentlichen Seele seinen Sitz aufgebaut. Wie schön daß er jedem in der Gesellschaft etwas sein kann und will! Selbst dem Unmündigen und Geistesarmen reicht er geistig den Arm! Wie verehren ihn seine Wirthsleute ! Ein wildes Thier von Ehemann ist, seit er da ist, mild. Ein Geizhals ließe Häuser aufbauen, um ihm nur ein Zimmer recht wohnlich zu machen. Nein, nie werd’ ich den Abend vergessen, wo meine Tochter vor Zahnschmerzen vergehend, Nachts Elf Uhr nach seiner Wohnung stürzt, ihn aus dem ersten Schlafe wecken läßt, wie er sogleich Barfuß im Dunkeln die Treppe hinabsteigt in den Hof, das erschöpfte halb ohnmächt’ge Mädchen in einen Gartensessel sich setzen läßt, und sie magnetisch zu streichen beginnt, was mehrmals schon ihre Schmerzen gelindert, und als man sie eine halbe Stunde nachher im tiefsten Schlafe zu Hause trägt!

Zitierhinweis

Von Minna Uthe-Spazier an Caroline Richter. Dresden, nach dem 26. Mai 1822 . In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0281


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Textgrundlage

D: Persönlichkeit S. 288-289, Nr. 302.

Überlieferung

D: Richard Otto Spazier, Jean Paul Friedrich Richter, ein biographischer Kommentar zu dessen Werken, Leipzig 1833, Bd. 5, S. 182f.