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ist das Leben auf der Bettenburg am behaglichsten. Wir haben viel zusammen gelesen, unter andern Fouqués Alethes von Lindenstein, den ich Deinen Schwestern hiermit will empfohlen haben, und andre gute Sachen von Fouqué. Doch auch einiges grundschlechte von demselben, z. B. die Pilger. Solche Stücke, deren Fouquès noch viele liegen hat, selbst herauszugeben, schämt sich Fouqué doch; aber Franz Horn thut es, macht sie höflich in den Vorreden herunter, und hinterlistig herauf, und Fouqué streicht seine blanken 3 Louisdors für den Bogen ein. Es ist unverzeihlich, wie dieser geistvolle u. gemütliche Mann seine Gottesgabe in sich verdirbt: jeder Funke in ihm wird zu Golde gemünzt, und selbst seine Fieberfantasien braucht er für den Geldbeutel, da jede neue Erzählung ein neues Gespenst vonnöthen hat. Einen langen Brief von 14 Quartseiten haben Truchseß und ich gemeinsam an Fouqué geschrieben, ihn gelobt, ihm gedankt für vieles, und dann über Vieles den Spiegel vorgehalten, namentlich über die abscheulichen u langweiligen Pilger. Wen Du einmal Lust bekommen solltest, vor Gähnen und immer wachsender Langeweile die Mundklemme zu bekommen, ich bitte Dich, lies die Pilger. Auch Hofmanns, des berühmten Humoristen Werke hab' ich gelesen. Er ist ein genialer Kopf, aber seine Fantasien sind ohne wirkliche |2 Grundlage, u werden dadurch zu eitel Fantastereien; dabei blickt mitunter ein grober Egoismus vor, und in seinem Gemüte liegt nichts, das anzieht, und zu dem Menschen selbst hinzieht. Auch Göthes Göz, den herrlichen einzigen Göz haben wir gelesen, und ich glaubte, neben Göz selber zu sizen, wie ich Truchseß vorlas. Er hat in seiner Jugend diesen Namen geführt, so zu sagen als Beinamen, den seine Kriegskameraden ihm gegeben. Ich ward diesmal mit einer fast gleimischen Eifersucht von Truchseß festgehalten; ich durfte auch gar nicht von ihm, und wollte auch nicht; was ich aber für mich lesen oder schreiben wollte, das mußte ich Abends nach 10 thun. Da las ich denn oft bis lang nach Mitternacht in dem Musäuszimmer (ausgemahlt mit Freskogemälden aus den Volksmährchen) am warmen behaglichen Ofen, während mein süßer Ludwig neben mir schlief; des Morgens hätte ich auch noch wohl eine Stunde für mich gehabt, aber der kleine Ludwig bat mich so freundlich, ich sollte mit ihm Billiard spielen (im Veit Weber Zimmer), und dem freundlichen Knaben konnte ich nichts abschlagen. Du lieber Heinrich, wie gönnte ich Dir, daß Du Truchseß kenntest; ich hab' ihm viel von Dir erzählt, und von Deiner Schweizerreise. Auch die Mutter u. Schwestern und die Tante Grävem müßten ihn kennen. Es sind wohl noch außer ihm Menschen, die völlig so gut und so brav sind, aber so wie er |3 ist außer ihm keiner. Es gehört wohl zum Wesen eines recht ordentlichen tüchtigen Menschen, daß er in der Natur sein Ebenbild nicht findet. Es war mir, wie Schiller gestorben war, immer schmerzlich, wenn ich Reden hörte, wie: der u. der würde ihn ersezen; als ob sich so ein Verlust ersezen ließe; als wenn die Lücke nicht heiliger wäre, wie jedes Surrogat; nur ein Kammerdiener, ein Schreiber, ein Commerzienrath, und alles aussieht wie Hinz und Kunz, kann ersezt werden. Ich blieb über 14 Tage auf der Bettenburg, die mir wie Augenblicke verschwanden, aber jezt in der Erinrung doch lang dünken, wie die ganze Reise fast eine kleine Ewigkeit. Dann begleitete uns Truchseß nach Würzburg, und ich sezte mich mit meinem Ludwig, der mir bis Heidelb. nicht vom Schooß gekommen ist, in den Postwagen. Gesund u wohlbehalten sind wir hier angekommen und nun zehre ich an der Reise, wie der Winterbär an seinen Pfoten, nur mit dem Unterschiede, daß er mehr schläft, ich mehr wache. Meine Collegia (Sofokles, Properz, Aristof.) machen mir große Freude. Ich size wieder mitten im Aristofanes; muß aber nun bald auch an den Shekspear, der mich von Michaelis an recht ordentlich fesseln wird. Nun will ich den Sommer recht fleißig sein, wenige Menschen |4 sehn, und meine Arbeit vertieft leben. Das wird auch Dein Loos sein, und zugleich Deine Lust u. Freude. Im Garten will ich viel arbeiten, u. spazirengehn so oft [...] es Noth thut. Den Unhold Markus hab' ich nur einmal erst gesehn; er verschont uns mit häufigen Besuchen, und wenn die Eltern fort sind, wird er mich ganz verschonen. Thut ers, ich könnte ihm ordentlich gut dafür werden.

Nun leb wohl, mein bester Boie, ich hätte Dir wohl mehr und ordentlicher schreiben können, aber ich habe nur wenig Zeit darauf zu verwenden, und es liegt noch mancher Briefbär bei Mir, der losgebunden sein will.

Der böse Jean Paul kömmt nicht; es ist mir ärgerlich. Warum versprach er's denn? Noch ist es freilich möglich, daß er kommt; aber er schweigt, der Esel, und ich hatte mich doch so zu ihm gefreut.

Leb wohl, Du Sohnesvetter, und grüße mir hübsch ordentlich all die Deinen. Dein treuer Vetter

Heinrich Boie.

Zitierhinweis

Von Heinrich Voß an Heinrich Boie. Heidelberg, nach dem 23. April 1817. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0797


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Textgrundlage

H: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, N. Bäte1,2
1 Dbl. 4°, 4 S. Anfang fehlt.

Überlieferung

D: Ludwig Bäte, Kranz um Jean Paul, Heidelberg 1925, S. 52 (nur Fragment).


Korrespondenz

Zur Datierung: Bäte vermutet, der Brief sei 1819 geschrieben (Kranz um Jean Paul, S. 63). Anhand der Berichte von Heinrich Voß über seinen Besuch auf der Bettenburg, die vom 7. (?) bis zum 23. April 1817 stattfand, lässt sich der Brief vordatieren. Er wurde unmittelbar nach der Ruckkehr nach Heidelberg Ende April 1817 verfasst.