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Liebe Karoline! Durch einen Reisenden kann ich Ihnen dieses schicken, es wird Ihnen ungesiegelt übergeben werden.

Von M Spazier kann ich Ihnen nichts Bestimmtes sagen , es geht ihr leidlich wohl.

Jedes weiß nur von dem andern durch die allgemeinen Begebenheiten; man hat keine Worte für das Leben dieser Zeit, viel weniger kann man schreiben. Ein Abend bei Ihnen mit Richter, da könnte man ahnden lassen, welche Aussicht es gewährt, denn die Pforten der Ewigkeit sind eröffnet. Tod, wo ist dein Stachel etc. – Werden wir uns in dieser Zeit oder in der Geburt dieser Zeiten wiedersehen ? Ich weiß nichts von mir, wahrscheinlich bleibt Edda nicht hier. Alles, was ich sonst noch von Besorgungen und ausstehenden Zahlungen haben soll, muß ich verlieren , und wer wird nur danach fragen [...] auch habe ich dafür keine Furcht. Die allgemeine Armut ist auch ein allgemeines Haben, und wo solche Herrlichkeit, ist die Klage nicht möglich.

Wie würde es mir sein, wenn ich mit Jean Paul sprechen könnte! Herder erlebte es nicht, Schiller hat in Posa diese Zeit vorempfunden.

Ich habe in dieser Zeit durch Krankheit und Schwäche Freunde verloren. Im Waffenstillstand sind nun einige gute Bekannte bei uns, viele sind auch schon tot.

Meine Söhne leben bis jetzo noch. August ist wieder mit seinem Freund , beide als Lieutenants, bei einer Compagnie . Es ist ein Zauber der Freundlichkeit und Liebe in allen; ich sage nicht von den Gestalten, aber die Jünglinge mit dem Willen und Empfinden der einzelnen Männer, die sind das Salz der Erde, und die Menschenliebe, wie die kranken Russen sagen. Denn hier werden 700 Blessierte und Kranke nur in Einem Lazarett von der besten Societät verpflegt, und alles thut diese. Wenn sie nun kommen und Speise vertheilen, wenig, so sagen die Russen, die oft kein anderes Wort sagen können: Menschenliebe. Es sind noch mehrere Lazarette, auch von Damens versorgt, das eine, wo auch unsere Prinzessin sorgt , ist zu 60, aber ganz vortrefflich. Dieses ist aber nur weniges bei diesen unsäglichen Leiden und Beschwerden.

Wenn Nachrichten in den Zeitungen kommen, die jedes empfindende Wesen erschüttern müssen, denke ich stets auch an Sie beide , und dazu ist jeder Tag geweiht. Mich wird auch wohl bald Ermattung hinschlummern lassen, wenn nicht früherer Schmerz es thut. Kann ich, so sehe ich Sie noch in diesem Leben ; auch meine Cousine Auguste, die ich sehr liebe, möchte ich noch einmal sehen , und den braven Vater. Hätte ich früher von der Abreise dieses Herrn W. nach Bayreuth erfahren, wäre ich vielleicht mit ihm gekommen.

Charlotte.

Berlin, d. 22. Juni.

Zitierhinweis

Von Charlotte von Kalb an Caroline Richter. Berlin, 22. Juni 1813, Dienstag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB0981


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Textgrundlage

D: Kalb, S. 148–150, Nr. 118 (HE Berend)


Korrespondenz

Der Brief wurde überbracht von einem Herrn W., der von Berlin nach Bayreuth reise.