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B., den 18. März 1826

Verehrter Freund! Die schnelle und vollständige Erfüllung meines Wunsches hatte ich nicht erwartet, und mein Dank wird Heilighaltung dieser mit so vieler Ehrfurcht erhaltenen und abgeschriebenen Blätter des Verewigten sein. Auch mein Wille ist es, die Briefe herauszugeben, und ich danke Ihnen für Ihre unumschränkte Bewilligung, die der freiesten Mittheilung ganz in dem Charakter des Seligen Raum lässet. Möchte auch Otto, der im Besitz der vertrautesten Seelenergiessungen meines Mannes über alle Gegenstände der Kunst und Litteratur, wie über sein Inneres und seine Verhältnisse ist, sie eben so rückhaltlos der Menschheit geben – aber ich fürchte sehr seine Ängstlichkeit.

Ihr geistiges wie körperliches Wohlsein freut uns sehr, mein theurer Thieriot; dürften, könnten wir Sie wiedersehen! Meine grossen Kinder würden Sie mit unendlicher Liebe empfangen. Kommen Sie nach Baireuth, lassen Sie es Sich eine Zeitlang unter uns wohl sein! Denken Sie Sich, dass ich erst vor Kurzem Ihr unnachahmliches Briefchen von Paris an unsre 1802 im September geborene Emma fand, und sie jetzt, bei ihrem nun reifen Verstand, damit entzücken konnte. Auch Ihre Briefe, welche alle aufbewahrt sind, führten mich in eine durch die letzten Begebenheiten meines Lebens tief untergegangene Vergangenheit zurück, und wenn Sie es nicht verbieten, wünsche ich diese zum Theil mit in eine Sammlung aufnehmen zu können, weil alle allgemein interessante Gedanken, nach meinem Begriff, ein Eigenthum der Menschheit sind, das nicht ohne Frevel unbeachtet und vergraben untergehen darf.

Wangenheim ist nach Coburg auf seinen ländlichen Sitz zurückgekehrt. Er soll da glücklich sein. Wir sahen ihn zuletzt in den Septembertagen des vergangenen Jahres, wo zu letztenmal er den hochherrlichen, aber von Körperschwäche überwältigten Engel sah. So brüderlich theilnehmend und wehmütig achtend der menschliche Wangenheim den ehemals kräftigen Freund auffasste, so hatte der Kranke nicht die Kraft, das vier Stunden lange Gespräch von 6-10 Uhr Abends auszuhalten, und wir mussten sogar wünschen, Wangenheim gehe bald. So endete ein Wiedersehen – ein letztes Sehen, was sonst so schön gewesen wäre. Mit treuer unveränderter Innigkeit forschte Wangenheim nach Ihrem Schicksal, mein theurer Thieriot. Schreiben Sie ihm einmal. Odilie war’s, die an die Familie Pagenstecher meinen Brief übergab; sie lernte die eine Tochter „Jettchen“ in Würzburg kennen, als wir sie leider in’s Heine’sche Institut bringen mussten. Eine erst spät sich entwickelte Anlage zur Schiefheit hatte es uns als Pflicht auferlegt. Das Übel ist jetzt kaum sichtbar; es ist ein langes schlankes Mädchen geworden, die Ihre Emma überragt.

Es war auch ein unaussprechliches Leiden für mich – es geschah nach dem Tode des Max. O dieser Sohn, mein Lieber! – sein Tod hat alle Güter des Daseins in jene Welt hinübergesetzt, und um das Fürchterlichschmerzhafte zu ertragen, muss man sich mit den höchsten Ideen über Gott und die hohen Zwecke unserer eigentlichen Bestimmung als Geisterwesen stärken – aber heisst das nicht in einem fortwährenden leiblichen Tode begriffen sein?

Amöne und Otto leben noch immer ihr bescheidenes selbstständiges Leben fort. Beide sind sehr wohlaussehend, sehr stark geworden. Die vielen geselligen Verbindungen, die Amöne sich durch ihren Witz, ihre Unterhaltungsgabe zu erhalten weiss, durchflechten ihr Leben angenehm mit Freudenblumen. Ich sehe sie viel, doch nicht täglich wie sonst, weil ich Einsamkeit brauche – und weil wir doch nicht übereinstimmend fühlen und denken.

Ich suche mit meinen Kindern mir eine selbstständige Existenz zu bewahren. Ich bewohne die Zimmer, wo unser Vater und Freund lebte und schlief. Seine ganze mir heilige Nachlassenschaft von Manuscripten, seine Bibliothek sind fortwährend unter meinen Augen. Soweit meine und meiner Emma Kräfte, deren geistige Natur von einem Stoffe mit der ihres hohen Vaters ist, reichen, werden wir zu Sammlungen keine weitere Hilfe als Otto’s kritische Übersicht brauchen, und so ist das Leben hinlänglich geheiligt und würdig angewandt.

Ich darf wohl sagen, dass die Andacht und wahrhafte Gottesverehrung für alle Ausströmungen seiner heiligen Seele, die er in Papieren niedergelegt hat, mich wohl des hohen Berufs, für ihre Erhaltung und Anwendung zu wachen, würdig macht.

Mit innigster Dankbarkeit haben wir die Grüsse Ihrer guten Gattin gelesen, und erwiedern sie von ganzer Seele. Wenn gemüthliche anhängliche Herzen Ihnen, interessantes Geistespaar, genügen könnten auf dieser in Liebe so armen Erde, dann wünschen wir Sie Beide von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Gott sei mit Ihnen, edler Freund, Bruder und innig Verehrter!

Ihre Caroline.

Glücklich wäre ich, wenn Sie mir manchmal schrieben, und ich gebe Ihnen im Voraus Vollmacht für alle nur mögliche Zurechtweisungen. Sagen Sie mir alles was Sie in Hinsicht auf Richter’s geistigen Nachlass wünschen, Sie sind ja sein Geistesverwandter.

Zitierhinweis

Von Caroline Richter an Paul Emile Thieriot. Bayreuth, 18. März 1826, Sonnabend. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1024


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Textgrundlage

D: Karl Schwartz: Lebensnachrichten über Jean Paul's Geistesverwandten und Freund Paul Emil Thieriot. In: Annalen des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung. Bd. 18 (1883/84), Wiesbaden 1884, S. 127-128.