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Heidelberg, d. 27. Aug. 1811.

Wagner’s "Jesus von Nazareth" habe ich mit allem Fleiße durchgesehn und meine Bemerkungen niedergeschrieben , unter welchen einige von Schwarz sind. Jetzt ist alles in Jean Pauls Händen.

Ich erblicke hier und da ein modernes Kostume statt des alten einfacheren. Das stört den schönen Ton des Ganzen. Das Moderne blickt besonders durch in den Beiwörtern.

Eine solche Erzählung hat ihre eignen Schwierigkeiten. Ist sie im alterthümlichen Geist, so ziemt ihr auch alterthümliche Sprache; dann bleiben freilich dem gemeinen Leser manche Dunkelheiten, deren tieferen Sinn das Gemüth nur ahnet. Soll sie für unsere Zeit zugeschnitten werden, so muß auch gewissermaßen der Inhalt selbst sich der modernen Denkart fügen; und wie vieles geht dann verloren!

Giebt es eine Vermittelung, so ist sie gewiß schwer. Wagnern scheint sie da am meisten gelungen, wo seine bildliche Sprache die alte Vorstellungsart ungekränkt läßt und bloß durch einen hinzugefügten Gedanken die jetzigen Vorstellungen damit zu vereinigen sucht.

In Rücksicht der Wunder scheinet mir Wagner den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Er erzählt alles einfach, wie es geschrieben steht, aus dem Gemüth der Evangelisten. So muß es geschehen! denn wenn Einer von den Grundgescheidten, Wasserklarverständigen, der da weiß, daß es keine Wunder giebt, Wunder erzählt, so kann unmöglich beim Leser der Glaube dafür erweckt werden; und wer mit solcher Grundgescheidtheit alles Wunderbare hinwegexegisirt, – nicht selten Sprache und Grammatik auf das grausamste folternd, – um die Ehre seines Gottes zu retten, der ist mir verächtlich. Der rechte Erzähler muß den Glauben im Herzen mitbringen; und das hat Wagner gethan, wie die Evangelisten; nur mit dem Unterschiede, daß, was bei diesen einfältig-religiöser Glaube war, bei ihm ein poetisch-religiöser Glaube geworden ist. Mir aber gilt das ziemlich Eins! Johannes, als er vom Teiche Bethesda erzählte, glaubte ohne Zweifel an das persönliche Daseyn eines Engels, der das Wasser in Bewegung setzte. Der moderne Neologe erschrickt davor, und weiß durch Advokatenkniffe den Engel so rein weg zu läutern, daß auch nicht ein Fläumchen aus seinem Flügel zurückbleibt. Wir Nichttheologen wissen recht gut, daß die Heilkraft des Wassers aus der Beschaffenheit der Erdschichten, vielleicht auch aus manchen Zuflüssen, herrührte, freuen uns aber doch der herrlichen, echt religiösen Dichtung, daß die Gottheit durch einen himmlischen Boten das Wasser in Bewegung setzen, und von wunderbarer Heilkraft sprudeln lasse. – Das ist es auch, was mir den Ariost so lieb macht. Er weiß mich durch seine gläubige Darstellung so in seine Wunderwelt hineinzuzaubern, daß ich glauben muß; gerade wie es einem in wunderbaren Träumen zu ergehen pflegt. Sein Nachfolger Fortiguerra dagegen, der Verfasser des Riciardetto , den ich in meinem funfzehnten Jahre las, wollte mir trotz des Wunderbaren, was sonst die Jugend so anzieht, nicht gefallen; – gewiß, weil er viel zu ungläubig ist, um für seine Märchen Glauben einzuflößen. Auch hier heißt es: "werdet wie die Kinder."

Griesbach hat Wagnern mitunter Unrecht gethan. Statt ihn von der poetischen Seite aufzufassen, greift er ihn von der dogmatischen an; (ein Mißgriff, den Mancher bei der Beurtheilung von Schillers "Göttern Griechenlands" sich hat zu Schulden kommen lassen.) Freuen sollte es mich, wenn es mir gelungen wäre, hier und da Wagners poetischen Glauben gegen Griesbachs Polemik zu befestigen. Ueber einige Punkte habe ich meinen kritischen Nachfolger Jean Paul gebeten, zu notiren. Ob Johannes wirklich "Großvezier im Messiasreich" habe werden wollen, wie Griesbach behauptet, geht mir noch immer im Kopfe herum, wie Etwas, das nirgends Platz finden kann.

Sobald ich Antwort von J. Paul habe, schreib' ich Wagnern sogleich und danke ihm für das Bildniß Oehlenschlägers, oder vielmehr seinem Antönchen.

Du willst, ich soll einen Kommentar zu Shakespeare schreiben? – Das könnte wohl kommen! Wenn ich mit Abraham und Abecken an Einem Orte lebte, so wollten wir Drei gemeinschaftlich etwas Gutes liefern. – Zum Wintermährchen und Koriolan wird wahrscheinlich noch Titus Andronikus hinzukommen, von dem schon mehrere Akte übersetzt daliegen. Dieses Stück ist fast gräßlich; aber unübersetzt darf es nicht bleiben. Es ist eine Jugendarbeit Shakespeare's; aber die es ihm absprechen, haben Unrecht, wie ich beweisen könnte. Hast Du Tieck’s altenglisches Theater gelesen? Perikles ist wohl von Sh.: aber den alten König Johann für seine Dichtung auszugeben, möchte nicht von kritischem Geiste zeugen etc.

Zitierhinweis

Von Heinrich Voß an Christan Freiherr Truchseß von Wetzhausen. Heidelberg, 27. August 1811, Dienstag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1105


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Textgrundlage

D: Ernst Wagner’s sämmtliche Schriften, hg. von Friedrich Mosengeil, Bd. 12, Leipzig: Fischer 1828, S. 179-182.