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Meiningen, d. 26ten April 1815.

Entschuldigen Sie mit Nachsicht, mein theurer Freund, daß ich nicht gleich nach Empfang Ihrer freundlichen Zeilen Ihnen dafür dankte und für die gütige Aufnahme meines Leopolds! Schwendler ist in Consinigtions- und Lieferungs Angelegenheiten schon seit acht Tagen im Oberlande während der Zeit er mir mancherley kleine Besorgungen aufgegeben hatte, die mich in der That so beschäftigten daß ich nun erst jetzt den ersten freyen Augenblick benutzen kann.

Unendlich schwer ist mir dieses mahl der Abschied von meinen Liebling geworden, ich will nicht rechten, nicht richten um und für den neuen Kampf, weil ich ihn aus einen höhern Gesichtspunkt nehme, aber wenn man einmahl aus namenlosen Gefahren einen Geliebten hat entkommen sehen, dann zittert man, solches Glück zum andern mahle hoffen zu dürfen . Das halbe Jahr in Erlangen war von vielseitigem Nutzen für Leopold, so flüchtig seine Erscheinung auch bey mir war, so entgingen mir die Vortheile nicht, die ein gewählter Umgang dort auf seine Bildung hatten . Dauert der Feldzug lange, so werde ich leider Verzicht thun müßen, ihm seine akademische Laufbahn wieder anknüpfen zu sehen; da er dieses mahl sogleich als Officier in Dienst und in die Adjudantur des Königs tritt |2 so läßt sich ein solches Conocement für ihn erwarten, welches ihm nach den Frieden, den Abschied zu fordern, fast unmöglich machen wird. Für den Augenblick hat er mir versprochen, beendet sich die große Crisis in einem halben Jahre, so fängt er seine Studien wieder an, wo nicht, nun dann muß ich mich drein ergeben daß jetzt kein Individuum einen Willen hat, sondern daß die Zeit mit ihren gewaltigen Erscheinungen das Schicksahl der Einzeln wie des Ganzen bestimt. Mit dem herzlichsten Danke, bin ich durch Leopold Ihre Schuldnerinn geworden, da es vielleicht möglich wäre, daß Sie, liebster Müller, in der hiesigen Gegend über die Summe disponiren wollten, so erwarte ich einen Wink von Ihnen, wohin ich zahlen soll. Gelingt es, meinem Sohn, mir Amanda, zurück zu führen so haben meine beyden Kinder die Freude bey Durch Reise in Weimar Sie zu sehen, nach Ihrer gemüthvollen Weise spenden Sie einstweilen meine mütterlichen Grüße aus.

Luhdens Auffruff ist vortrefflich, in die Nemesis konnte und wollte ich mich nicht versteigen, aber in die National Zeitung habe ich einige Worte gesendet , die meiner Ueberzeugung und meinem Gefühl |3 mehr lagen, und die sich auf einen herrlichen Aufsatz beziehen, den ich vor einigen Wochen, in derselben las: Der neue heilige Krieg . Es ist fast unmöglich in der ernsten Zeit, nicht zuweilen so ergriffen zu werden, daß der Gedanke zum Buchstaben wird, wohl möchte ich etwas von Ihnen lesen, so sinnig ans Herz sprechend, wie Ihre Sprache immer ist. Endlich wird ja nun der Congreß zu Ende gehen. Hr. v. Erffa wird in der künftigen Woche hier erwartet.

Ueber Deutschlands Gestaltung verlautet in institutionneller Hinsicht noch nichts. Man ist hier sehr aengstlich über die Nähe meiner Landsleute von Henneberg aus, da sich Preußen diesen Distrikt Sachsens schlechterdings vorbehalten hat . Ich hoffe, nach und nach werden die Gemüther ruhiger werden da die große Welt Angelegenheit Napoleon alle Aufmerksamkeit an sich ziehet, und gegen diesen Welten Stürmer wohl meine wakern Preußen wieder das Beste werden thun müßen. – –

Feodora habe ich noch nicht zu Augen bekommen, die Fouqué schreibt unendlich viel und rasch, bis jetzt ist ihre geübtere Feder die beßre gewesen |4 möge es so bleiben! –

Ihre Grosherzoglichkeit wird gewiß manche Veränderungen nach sich ziehen, fürs erste möchte ich wünschen daß die Besitznahmen in unsrer Nähe, s S ie zu uns führen möchten, ich kann es weder vergeßen, daß ich Sie letzt in Liebenstein nicht sehen konnte, noch daß ich mir das letzte mahl einen kleinen Besuch in Weimar selbst versagen mußte.

Wilhelm Stein der Vater leidet unaussprechlich, es ist keinen Zweifel mehr unterworfen, daß seine Krankheit, das fürchterlichste aller Leiden die Brustwaßersucht ist. Noch sträubt sich freylich gegen die Zerstörung des edelsten Organ seine übrige Gesundheit, aber weil auch seine ganze Lebensweise zu jener hinangeleitet hat, so geben die Aerzte alle Hoffnung wenigstens zu seiner Wiederherstellung auf. In Nordheim ist Frau v. Stein außerordentlich von den französischen Begebenheiten angegriffen, ihre Brüder hängen ohne Zweifel dem vom größten Despoten scheinbar zum Demagogen gewordnen neuen Herrscher an, ihre Mutter, Schwestern und Schwager dem Könige, und so erhält sie fast von niemand Nachrichten. Welches Volk ! –

Die Post eilt, Gruß und Liebe den Ihrigen, mit ewiger Dankbarkeit

die Ihrige Henriette S.
Zitierhinweis

Von Henriette Schwendler an Friedrich von Müller. Meiningen, 26. April 1815, Mittwoch. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1124


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Textgrundlage

H: GSA, 68/540, Bl 27-28
1 Dbl. 8°, 4 S.