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Altenstein, d. 26. Aug. 1816.

Auf der schönen Burg meines edlen Ritters, der so gastfrei, und eben darum selten Gast-frei ist, mag's wohl schon eher vorgekommen seyn, daß alte und neue Gäste sich einander auf der Schwelle begegneten. Man hat in solchen Fällen sein Gesicht nicht immer in seiner Gewalt, und murmelt vielleicht, wenn es klopft, in den Bart: "ach, schon wieder ein Besuch!" Da tritt aber manchmal ein alter treuer Freund herein, nach dem wir uns schon lange gesehnt haben. Wie heitern sich dann plötzlich die Mienen auf! Wie eilt man ihm entgegen! Wie bittet man ihn in Gedanken um Verzeihung, weil man nicht so ganz freundlich "herein!" gerufen; und wie labt man sich nun mit ihm, – reich entschädigt für die Langeweile, die seine Vorgänger uns mitbrachten! –

Ein solcher lieber Gast war mir Ihr Brief , der gerade eines Morgens anlangte, wo ich schon mehrere mich langweilende erbrochen hatte. Noch einmal heiße ich ihn herzlich willkommen, und eile nun sogleich zur Beantwortung.

Von unseres Wagner's unvollendet gebliebenem Werk hat mein Gedächtniß, außer dem wohlthätigen Eindruck, den das Ganze bei mir zurückgelassen, im Einzelnen nur wenig aufbewahrt. Mein Urtheil ist daher jetzt, sobald hievon die Rede seyn soll, wo nicht das des Blinden von der Farbe, doch wenigstens des Kurzsichtigen von der Ferne. Doch selbst bei einem so beschränkten Urtheile finde ich die Schwierigkeiten, die unsern Voß bisher von der übernommenen Bearbeitung und Ergänzung des Fragmentes zurückgeschreckt haben, erheblich genug, ja kaum zu beseitigen.

Der verewigte Dichter hatte wohl das rechte Herz, den Evangelisten da Leben Jesu nachzuerzählen, aber an manchen Vorkenntnissen fehlte es ihm, dem Nichttheologen, allerdings; insofern nämlich eine befriedigende Vereinigung der heiligen vier Erzählungen von des Herrn Leben und Sterben ohne Kritik und Sprachstudium nicht füglich unternommen werden kann. Wer aber nach Wagner das Werk zu bearbeiten und zu vollenden übernähme, der machte sich anheischig, alles Mißverstandene zu berichtigen, die sämmtlichen vorliegenden Anmerkungen sachverständiger Männer zu beachten , und außer denselben noch gar manche andre, die in den exegetischen Werken neuerer Schriftsteller zerstreut sind. Das führte in ein weites Feld, und man möchte dabei wohl fragen: was bliebe noch von Wagners Arbeit übrig?

Von dieser Seite betrachtet, würde ich also kein Bedenken tragen, den Druck der, auf solche Weise umgearbeiteten Schrift zu widerrathen. Was aber möchte wohl hindern, das Bruchstück ganz in seiner jetzigen Gestalt Wagners vielen Freunden als ein letztes Andenken aus gutem treuen Herzen darzureichen? Die undankbare Rolle eines Zwischenredners aufgebend, übernähme Voß die des Vorredners. Er gäbe die kurze Geschichte des Werkleins und suchte überhaupt den Leser in den rechten Gesichtspunkt zu stellen, welcher kein andrer ist, als der des Glaubens und der Liebe. Warlich! auch dieser Jesus von Nazareth würde Herzen egwinnen und erwärmen! Wagners Publikum ist groß; sein "Jesus" wird in demselben gar viele Leser finden, welche die Evangelien nur von ferne kennen. – Wer vermöchte die frommen Gefühle zu zählen und zu wägen sich erdreisten, sie durch eine solche Schrift entzündet, als heilige Opferflamme des gottgeweihten Herzens vielleicht nimmer wieder verlöschen? Die Geschichte des größten Leidenden, den die Welt kennt, von einem ausgezeichneten Schriftsteller, der selbst ein armer leidender Mann war, unter vielen stillen Thränen erzählt (deß bin ich Zeuge!) – von einem Manne erzählt, der zwar niemals die gelehrte Schriftforschung zu seinem Studium gemacht, sich niemals im Gewirre theologischer Systeme und Hypothesen befangen hatte, aber eben darum "aufhob heilige Hände ohne Furcht und Zweifel" – und dessen müdes Leben früher zu Ende ging, als seine Erzählung: – wie rührend und erwecklich ist das! Wer könnte wohl den letzten, unvollendet gebliebenen Satz des ehrwürdigen Bruchstückes ohne nasse Augen anblicken? und wie Mancher würde es nur darum aus der Hand legen, um in den heiligen Urkunden selbst weiter zu lesen.

Daß Wagner die Bekanntmachung seiner letzten Arbeit nicht wünschte, ist eben so sehr in der Ordnung, als daß wir sie wünschen. Die Gründe, die uns bewegen, an ihre Nutzbarkeit zu glauben, konnten die seinigen nicht seyn, denn er mußte sie nur allein im Werke selber, unabhängig von seiner Persönlichkeit suchen: wir hingegen dürfen gerade diese vorzüglich mit in Anschlag bringen. Die gelehrte Kritik, die jenes letzte rührende Andenken unseres hart geprüften Freunde auf eine lieblose Weise herabzuwürdigen wagte, müßte sich ja zu Tode schämen!

Dieß, Theuerster, ist meine Ansicht und Meinung. Mögen nun Sie, Jean Paul, Voß, – vielleicht auch Ihr trefflicher Rochlitz, dem man die Handschrift mittheilen müßte, und der unter uns Allen wohl am unbefangensten darüber urtheilen könnte, – entscheiden.

Zitierhinweis

Von Friedrich Mosengeil an Christian Freiherr Truchsess von Wetzhausen. Altenstein, 26. August 1816, Montag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1126


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Textgrundlage

D: Ernst Wagner’s sämmtliche Schriften, hg. von Friedrich Mosengeil, Bd. 12, Leipzig: Fischer 1828, S.188-192.