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Baireuth, den 3 Jan. 1825.

Mein geliebter Emanuel! Die ersten brieflichen Zeilen will ich an Sie richten in diesem neuen Jahre, das ich, im Andenken an Sie, und bis heute in größter Einsamkeit begonnen, u eben so das vorige beschloßen habe. Um so mehr war ich vorgestern bei Ihnen, wie Sie, bei mir zu sein, mir in Ihrem letzten lieben Billet vom 18ten v. M. versprachen, als das sie mir am Abend vor Ihrer Abreise versprachen schrieben , Vier Tage nach Ihr der letztern kam im Gespräch zwischen Amöne und mir das Sprüchwort vor: was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß, und wurde erläutert in Beziehung auf die Schicksale der Menschen, bei welchen ein in der Entfernung vorgefallenes Ereigniß uns erst erreicht und trifft, wenn die langsame Nachricht von demselben zu uns gelangt, während wir in der Zwischenzeit, im Widerspruch mit der erfreulichen, traurig, und, im Widerspruch mit der betrübenden, fröhlich sein konnten. Am Morgen nach diesem Abendgespräche kam ein Brief von Erlangen mit der traurigen Nachricht |2 an, welche Sie im Korrespondenten gelesen oder sonst gehört haben, und dabei vielleicht auch, wie ich, daran gedacht haben werden, daß gerade 24 Stunden, bevor Sie mir Ihre letzten Abschiedsverse schrieben, Kanne (wie sich die gute Jette in ihrer Anzeige ausdrükt) im Herrn selig entschlafen ist .

Wir wußten kein Wort von seiner Krankheit.
Diese arme Jette verdient großes Mitleid, und ich erbitte Sie für dieselbe, wo Sie es gesprächsweise thun können, für sie zu wirken, besonders bei Schmidt , den ich hätte grüßen lassen, wenn er mir eingefallen wäre, wie es eigentlich hätte geschehen sollen wegen seines höflichen Betragens gegen mich. Er kann theils als Ministerialrath beim Ministerium des Innern auf die Bestimmung und Vergrößerung der wahrscheinlich kleinen Witwenpension, theils als rechte Hand der Königin wirken, deren Wohlthätigkeit jezt einen würdigen Gegenstand finden könnte. Sie, mein Emanuel, kennen der armen Jette früheste Lebensverhältniße, und wie sie aller Jugendfreuden beraubt u vom 10ten oder 12ten Jahre an, unverschuldet, zu körperlichen Leiden Preisgegeben war p. Sie hat wahrscheinlich den größten Theil ihres Vermögens aufopfern müssen theils zur Bezahlung von Schulden Kanne's, theils zu den Kosten seiner Jahre langen Krank |3 heit, theils wegen der Opfer, welche sie harten Brüdern bringen mußte, wenn sie in Noth war, und, nach ihrem u Kanne's Sinn sich Alles gefallen ließ, weil es "irdisch / zeitlich Gut" (Kanne's Worte) betraf , . wohin Dazu rechnete er leider auch die Wissenschaften – nicht in der That, sondern durch die That – rechnete indem er in seinen Söhnen die Liebe zu denselben nicht nur nicht weckte, oder sondern sogar nicht aufkommen ließ. Der ältere ist einige Monate vor des Vaters Tod als Apotheker in die Lehre auf 3 Jahre gekommen , wobei für jedes Jahr 100 f. zu bezahlen sind, außer den übrigen Unterhaltungskosten. Alle diese Umstände, besonders aber das Jugendunglück Jettens, können in demüthigen Bittschreiben nicht angebracht werden; weswegen ich eben meinen Emanuel bitte, gelegentlich und gesprächs- oder unterhaltungsweise, was Er vermag, an den rechten Mannund / oder an die rechten Männer zu bringen.

Sonderbar war es, daß der Brief von Erlangen einige Tage vor Weihnachten und zum Heiligenchrist ankamen, und daß ebenfalls einige Tage vor dem neuen Jahr einer von Hof ankam, in dem mir Albrecht von einer lebensgefährlichen, gottlob! fast überstandenen, Halsentzündungs-Krank |4 heit seiner Frau Nachricht gab, die gerade vor Weihnachten krank wurde, auf welche sie sich im neuen Haus, nach dessen vier wöchentlicher freudiger Bewohnung und Häuslichkeit, so sehr gefreuet habe.

Ist es doch fast mit den menschlichen Schicksalen, wie jetzt mit dem Wetter, an dem – nicht die Wetterpropheten – sogar, die neben den Wetterprophezeiungen, die Wettergläser zu Schanden werden, indem sie durch ihr närrisches und abenteuerliches Emporspringen nichts verkündigen, als die Nähe neuer Stürme u hinter dem kürzesten Tag immer einen noch kürzeren oder vielmehr einen aberrirten läng ren en. weil Bei mir gehen nämlich sogleich nach dem überstandenen Winteranfang (1824 nach dem 21t Xbr.) die langen Tage angehen ( phanthastischer phantastischer Weise) an, obwohl ich dabei nach 4¼ Uhr meine zwei Laden zumache, um den Sturm auszuschließen u Licht anzuzünden.

Dabei fällt mir ein, daß Sie doch jetzo so oft u in so mancher Gegend herumreisen, und daß ich meine alte Bitte wiederholen muß mit der Bemerkung, daß sie keine Scherzbitte, sondern im bittern Ernst ist, nämlich die an mich zu denken, wenn Sie in irgend einen verborgenen Erdwinkel kommen, wohin ich mich aus Baireuth (was durchaus noth |5 nothwendig ist) zurückziehen, und außer aller Berührung mit bisherigen Bekannten setzen könnte. Ich habe zu wenig Bekanntschaft mit den näheren oder entfernteren Ortschaften, und kann mich auch nicht leichtlich auf Reisen begeben, um meinen Erdwinkel aufzusuchen; wes wegen Sie mir eine Wohlthat erwiesen, wenn Sie im Fluge Ihrer Reisen u während Sie Ihren Gedanken Gehör geben, auch zuweilen einen Gedanken auf meine Bitte, u auf einen einsamen Wohnsitz für mich einen aufsuchenden Blick richten.

Was ich doch für ein Verschwender bin! Mit weit u breit geschriebenen Zeilen fange ich gedankenlos einen Brief an, als wüßte ich ihn so geschwind zu endigen, als ich ihn zögernd anfange. Komme ich nach solchem Hochmuth zu einiger Besinnung: so verengere ich die Zeilen u vergrößere die Buchstaben, weil die Feder geläufiger u stumpfer wird; aber es hilft zu nichts: denn was verschwendet ist, ist eben verschwendet, und man muß ein neues Blatt zur Hand nehmen und auch eine neue Feder.

Als ich die Ankündigung von der Einweihung des neuen Schauspielhauses wurde und die Reihenfolge der Stücke las, welche gegeben werden sollten: so dachte ich, daß Sie doch ja |6 keines versäumen, sondern sich und uns (Flora an der Seite) den doppelten Genuß Ihrer Theilnahme an den Festen und Ihrer Erzählung von denselben verschaffen würden. Ich habe mich gewiß nicht geirret.

Indeßen mag sich wohl die gute Flora, als ich sie neulich besuchte, in Rücksicht der guten Sitten des Besuchers geirrt haben. Als er nämlich bei ihr war, kam D Walther, und entwickelte – ungeachtet ich ihn zweimal erinnerte, daß er das Pulsfühlen ganz vergessen habe – sein Tonsystem; u da ich nun gar nichts davon verstehe u etwas davon zu begreifen u ihm dies durch einzelne Bemerkungen begreiflich zu machen suchte; so geschah es, daß er vielleicht Eine Stunde oder noch länger demonstrirte und der lieben Flora Geduld nicht erschöpfte aber gewiß ermüdete, u sie mit einer Freudigkeit verließ, als habe er das größte medizinische Meisterstück, an der Gesunden – als wäre sie eine kranke u hülfsbedürftige – verrichtet. Ich habe die Gesunde gebeten, Ihnen brieflich ihren Walther-Ottoischen Besuchs-Nothstand zu schildern unter herzlichen Grüßen von mir, zweifle aber sehr, daß sie jenes so treulich gethan, als diese ausgerichtet haben wird.

Indeßen muß ich auf das erste Indeßen ein zweites folgen, und abbrechen ich muß abbbrechen.

|7 den 4 Xbr. Dies habe ich wirklich gestern gethan, weil dieses Blatt leer bleiben, und abgeschnitten werden sollte.

Nachdem ich aber vom Sturm genöthiget worden war, zuerst in meiner Stube nach u nach 4½ Laden zuzumachen, u dann in die Nebenstube zu ziehen, wo ich nun bei drei unbeladeten Fenstern sitze; und nachdem ich mein gestriges Geschreibsel wieder durchlesen hatte, blieb mir nichts weiter übrig, als Schwarz auf Weiß auch auf diesem Blatte vor Ihnen zu erscheinen, zumal da ich dem tobenden Sturm mehr neben mir vorbei gehen lassen kann und nicht unmittelbar an mich anprallen lassen darf, woraus immer einige Behaglichkeit entstehet. (Ich sagte gestern vom Wetterglas, welches gestern schnell 3 Linien stieg, und in der vergangenen Nacht von 10 Uhr bis früh um 8 Uhr wieder 5 Linien fiel ) u sogar in dem kleinen Zwischenraum bis zu Krause bedeutende Abweichungen hat.)

Die arme Jette (ich muß immer auf dieselbe zurückkommen) hat nur Einmal bis jetzo u zwar blos Folgendes mit der schmerzlichsten Resignazion geschrieben: "Er. d. 21 Xbr. 24. L. l. Am.! Nicht Kälte, noch Freude hielt mich ab, Dir zu schreiben u zu |8 danken, sondern ein harter, harter Schlag. Daß mein guter Mann zwei Jahre kränkelte, wißt Ihr – Nun lag er 4 Wochen, bis endlich der Tod seinen Leiden am 17ten dieses ein Ende machte. Ach wie wird ihm sein, daß er am Orte seiner Bestimmung ist, wo kein Leid noch Schmerz sein wird, wo er erndten wird, was er gesäet hat. Aber wir sind noch zurück im Elend, in der Noth, und meine armen Kinder sind Waisen! Ich will mich ja gerne ohne Murren in den heiligen Willen des Herrn fügen, aber groß ist der Schmerz, und ich bin nach Leib u Seele sehr erschöpft. Nimm vor der Hand mit diesem vorlieb; ich kann nicht mehr, nach mehrer Ruhe weiter. – Grüße Otto u behalte lieb Deine Jette."

Hätte ich nicht alle meine Schreiberei vor und neben diesem Brief ersparen können, der mehr sagt als jede Schilderung? Amöne grüßt Sie herzlich. Sollte sich ja in München Jemand meiner erinnern: so grüßen Sie ihn dankend.

Die unglückliche, brave Frau! Leben Sie recht wohl und behalten Sie lieb

Ihren

Otto.

Also Richter

Kannein einem u demselben Jahr

Zitierhinweis

Von Georg Christian Otto an Emanuel Osmund. Bayreuth, 3. und 4. Januar 1825, Montag und Dienstag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1389


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Textgrundlage

H: ehemals Slg. Apelt,
2 Dbl. 8°, 8 S. Auf S. 8 wohl erst Jahre später hinzugefügte Bemerkung Emanuel Osmunds.