Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.



|1
Stöttritz den 18 Juny 1802

Sie schenkten mir, theuerster Freund, die ersten Stunden des Jahres, die dem Andenken, den guten Wünschen für unsere Freunde gewiedmet sind; Ihr Brief gab mir die Versicherung von beyden. Gewiß mein Herz dankte Ihnen dafür auf das lebhafteste, ach wären sie erfüllt worden die herzlichen Wünsche der Freundschaft, so hätten Sie den schriftlichen Dank dafür nicht erst jezt nach Verlauf von sechs Monaten erhalten. Aber, wir haben bange, traurige Tage durchlebt, noch liegt die Erinnrung an dieselben schwer auf meiner Seele, ich schwebte in der Gefahr meine beyden geliebten Eltern zu verlieren, zweymal glaubte ich meinen theuern Vater unwiederbringlich verloren, und einmal beweinte ich schon den Verlust einer zärtlichen Mutter! Ach, was gleicht wohl den Empfindungen die da mein Herz bestürmten, man muß so gütige Eltern haben wie ich, man muß sich durch ihre Liebe so glücklich fühlen, wie ich, um ganz das Schreckliche meiner Lage mit zu empfinden. Ich verstehe zu wenig meine Empfind |2 ungen auszudrücken, um mit Worten zu schildern, was ich bey den Gedanken an die nahe Trennung von denen die meinen Herzen am nächsten sind, empfand; um solche Empfindung zu schildern bedarf es einer geübtern Feder, als die meinige. – Es waren aber auch der Leiden zu viel für ein so schwaches Geschöpf, als ich, ich unterlag unter ihrer Last, und es fehlte wenig daß ich nicht ein Opfer des Todes ward, drey Monat brachte ich sehr elend zu, und nur seid einigen Wochen habe ich merkliche Fortschritte in der Genesung gemacht, doch leide ich immer noch an Schwäche und Kraftlosigkeit. Mehr bedarf es gewiß nicht um Entschuldigung für mein langes Stillschweigen zu finden. Eher bedürfte ich derselben wegen der Umständlichkeit mit welcher ich Ihnen, mein Freund, unsere häuslichen Leiden geschildert habe. Gewiß Sie verzeihen diese Weitschweifigkeit den kindlichen Herzen der liebenden Tochter! – Es scheint mir aber in der That auch als ob es den Menschen eigen wäre, gern von überstandenen Gefahren zu sprechen, es liegt etwas tröstliches in der Theilnahme guter Menschen; |3 und auch etwas beruhigendes in der Vorstellung daß sie überstanden sind, welches uns auch der Zukunft ruhiger entgegen gehen läßt, denn so wie die Leiden welche uns so schwer drückten, überstanden wurden; so werden wir auch die, welche unsrer erst warten überstehen; ich glaube darin liegt hauptsächlich der Grund; de Doch gewiß, wenn es nur tröstlich ist von vergangnen Leiden unsere Freunde zu unterhalten, so ist es hingegen unbeschreiblich süß von unsern gegenwärtigen Glück mit ihnen zu sprechen, und so verzeihen Sie auch mir, wenn ich Ihnen noch ein paar Worte über die Freude sage welche mir die unerwartete Erhaltung meiner guten Eltern verursachte, seyn ja groß, unbeschreiblich groß ist dieses Glück, es ist die schönste Belohnlung für alle die vielen angstvollen Tage! mit welcher innigen Freude habe ich jeden kleinen Fortschritt zur Wiedergenesung bemerkt!, fast däucht es mir, als wenn ich jezt erst gelernt hätte meine Eltern zu lieben. – Wir leben jezt auf dem Lande , und ich hoffe die besten Wirkungen für unser aller geschwächte Gesundheit. Für mich ist dieß allemal ein sehr glücklicher Zeitpunkt, meine Tage eilen da so froh und schnell in den Genuß der schönen Natur; ihre |4 Flüchtigkeit nur macht mich oft wehmüthig. – Hier, in meinen lieben Stöttritz hoffe ich nach so stürmischen Tagen Ruhe zu finden, und neue Kräfte für die Zukunft zu sammeln.

Wie könnte ich Ihnen aber nach allen den Erfahrungen die ich jezt gemacht habe wohl zu geben daß die kindliche Liebe nicht so groß nicht so rein sey als die elterliche? Nein, Sie meynen zwar, Sie wollten mir dadurch nichts nehmen, aber in der That, wer mich überzeugte daß mich meine Eltern zärtlicher liebten, als ich sie liebe, der würde mir etwas nehmen, der würde dadurch meinen Herzen weh thun. Indessen die Erfahrung spricht in den meisten Fällen für Ihre Meynung, und da es unsern Geschlecht ohnedieß zukommt, [...] un sere Urtheile den ihrigen zu unterwerfen, so will ich glauben daß Sie Recht haben, so lange die Rede von der allgemeinen Regel ist, aber für die Ausnahmen behalte ich mir mein Recht vor.

Habe ich mich erst wegen meines Schweigens entschuldiget, so möchte ich es jezt wegen meiner Geschwätzigkeit thun. Überhaupt bedarf dieser Brief gar sehr der Nachsicht eines Freundes, und also hoffe ich diese bey Ihnen zu finden. Kopf und Hände sind noch schwach, nichts weiter zu meiner Entschuldigung. Meine Mutter freut sich Ihres fortdauernden Andenkens, erhalten Sie es ihr und mir auch in der Zukunft, dieß ist die Bitte

Ihrer
ergebenen Dienerin
Dorothee Weiße

Zitierhinweis

Von Dorothea Weiße an Emanuel. Stötteritz, 18. Juni 1802, Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1439


Informationen zum Korpus | Erfassungsrichtlinien

XML/TEI-Dokument | XML-Schema

Textgrundlage

H: ehemals Slg. Apelt,
1 Dbl. 8°, 4 S.


Korrespondenz

B: Von Emanuel an Dorothea Weiße. Bayreuth, 31. Dezember 1801 und 1. Januar 1802