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Leipzig den 29 July 1805

Ich dachte, du dachtest wir dachten
und ließen die Feder doch ruhn.
Da viel wir im Geiste vollbrachten
vergaßen beym Dichten und Trachten
den Spruch wie vom Denken und thun
Ich harrte, du harrtest, wir harrten!
Da der sich auf jenen verließ
und Dint und Pappier wir ersparten
gelang uns selbst wider Erwarten
was Hoffen und Harren verhieß!

So sehr grammatischer Narr bin ich aber dich nicht geworden daß ich construirend fortfahre, und gar noch länger gegen die Hoffnung blasphemiren müsste die doch so eigentlich meine Göttin ist und überhaupt die Patronin alles bedingt Lebendigen. Überdem ist mein rechtmäßiges auf Deinen Brief doch am Ende eingetroffen und was man nicht nur rechtmäßig hofft, d. h. recht unmäßig wünscht, mit wie viel größerm Rechte kann man da nicht die Gewährung erwarten. Ich wollt es wäre mehr, so war ich noch ruhiger jetzt wegen der Mitte August, ob ich gleich dankbar bekennen muß daß ich nicht sehr unruhig bin. Nicht aus Trotz weil ichs nicht ändern könnte, auch nicht weil ich allen tröstlichen, gutes weißagenden Versicherungen so fest glaubte, aber ich bin ruhig weil ichs bin, und somit punctum von allem was dahin gehört. –

Die begehrten Sachen schick ich Dir heute über 8 Tage. Der Aufenthalt komt von dem Mangel an hohen Kragen an Deinen Hemden welche nicht mehr Mode sein sollen |2 Ich lasse Dir also 6 Kragen apart machen und diese werden erst in 8 Tagen fertig. Der Oberrock ist das Porto nicht werth, und ich heb ihn nur auf daß Du ihn als Schlafrock brauchen kannst wenn Du einmal herkommst.

Galls Zuhörer war ich mit lebhaftem Interesse gehoben und erhalten durch Wichtigkeit der Gegenstände und (fast jesuitisch oder capuzinerisch) Popularität des Vortrags. – Das Hauptresultat seiner Lehre war mir die Widerlegung der Idee als sey die Seele des neugebornen Menschen wie ein unbeschriebnes Blatt Pappier den verschiedenartigen Eindrücken der Lehre und des Lebens auf gleiche Art offen, und als sey die Freyheit, welche diese Empfänglichkeit motivirt, völlig unbedingt. – Gall sagt jedes geistige Vermögen bedarf ein besonderes Organ um sich in Verbindung mit der Organischen Welt aussprechen oder überhaupt geltend machen zu können. – Ist das Organ sehr vollkommen ausgebildet, so erweitert sich mit dem Werkzeuge die Fähigkeit es zu gebrauchen, und lässt dem Talent oder der Eigenschaft die Stufenleiter von der Anschauung und dem Gedächtnis bis zur Production schnell und mit Leichtigkeit zurücklegen. – Denn Gedächtniß und Phantasie (Productionsvermögen) sind nach Gall keine besondern Eigenschaften, sondern blos Grade der Ausbildung einzelner Eigenschaften, daher Tonsinn, Ton-Gedächtniß, Personensinn, Personengedächtniß, Portraitmalereyen, Ortsinn, Sinn für Verhältniße der Localität, Gedächtniß für diese Art von Wahrnehmungen

Auch kein Organ des Wahnsinns existirt. Wahnsinn beruht auf der Schwäche, oder der Verletzung oder der übermäßigen Anstrengung eines einzelnen Organs, |3 daher einseitiger Wahnsinn, nicht nur einseitig in Rücksicht auf die Verlezung einzelner Organe und der dadurch bewürkten Verrückung einzelner Ideen oder Vorstellungen, sondern auch oft einseitig in Rücksicht auf den Bau des Schädels selbst welcher überall mit doppelten Organen versehen ist die zwar unter einander in genauem Rapport stehen, aber doch einseitig verletzt werden können, daher manche zur linken (oder rechten) Seiten einen Abgrund zu sehen glaubten, oder andre dem Wahnsinne eigne fixe Ideen in dem Grade einseitig an sich spürten daß sie mit der Gesunden Seite über die kranke philosophiren und ihre eignen Symptome beobachten konnten. Die Entdeckung des Sitzes der Organe ist blos auf dem Wege der Erfahrung gewonnen und durch unzählige Beweise auch vorzüglich negative bestätigt. So zB ist das kleine Gehirn (Cerebellum) vornemlich das legislative Organ des Geschlechtstriebes, die eigentlichen Geschlechtstheile sind blos die Instrumente, die untergeordneten Organe. Ein Castrat der in spätern Jahren der Mannheit beraubt worden hat immer noch trieb, obgleich die äußern Bedingungen des Vollbringens nicht mehr vorhanden sind. Ist er als Kind nicht schon castrirt worden, so bildete sich das kleine Gehirn nicht aus und auch der Trieb zeigt sich später nicht. D. h. das kleine Gehirn bildet sich erst in den Jahren der Mannbarkeit völlig aus und durch den Druck desselben auf den Kehlkopf entsteht auch der vordere Höcker am Halse der Männer, die tiefe Stimme pp. Daher pflegt man auch einen solchen starken Höcker (vulgo Adamsapfel genannt) als ein Zeichen einer ungewöhnlichen Zeugungsfähigkeit anzusehen. – Der Mensch hat alle Organe mit den Thieren in sofern gemein, als das Thier keines vor ihm voraus hat, doch sind bey den Thieren einzelne Organe mit einseitiger Vorzüglichkeit ausgearbeitet |4 je nachdem die Natur und Bestimmung des Thiers es erfordert. Dies nennen wir Instinct. Der Mensch hat dagegen viele Organe vor den Thieren voraus, z. B. das Organ der Theosophie womit wir die transcendentalen Ideen aller Art aufzunehmen und in uns hervorzubringen befähigt sind. Eine einseitige Ausbildung dieses Organs erzeugt religiöse Schwärmer, Geisterseher pp. –

Wahrnehmen kann man den Sitz und die Größe der äußern innern Organe an der äußern Schädelfläche weil das Gehirn obgleich eine weiche Masse zuerst gebildet wird und durch seinen eigenthümlichen Druck, seine nach außen Bildende Gewalt die äußere Form des Schädels bestimmt, dessen 2 Knochenscheiben völlig paralel mit einander laufen. – Vertrocknung des Gehirns erzeugt Wahnsinn ohne daß der unaufmerksame Anatomiker eine Zerstörung der Organe wahrnimmt. In eben dem Grade aber als das Gehirn zusammentrocknet, verdickt sich die Knochenmasse des Schädels daher den Schädel eines völlig wahnsinnigen doppelt so schwer wiegt als der eines Gesunden. – Der Sitz der Seele ist nur in so fern im Kopfe als derselbe durch die in ihm verschlossenen Organe die unmittelbaren Bedingungen enthält durch welche die Seele auf den Körper wirken kann. Das Organische Leben besteht nicht ohne das animalische das durch die Verrichtungen des Bluts der Verdauung kurz durch den eigentlich physischen Proceß des Körpers begründet wird. – Stockt das Rad des animalischen Lebens, so versagen die Organe ihren Dienst, die Seele kann sie nicht mehr bestimmen, und der Mensch ist tod. – Ohne Organe gedacht ist die Seele ein Begriff, so wie der höchste Wille für uns |5 ein leerer Schall ist wenn wir ihm nicht das Organ der Natur oder das einer Offenbarung leihen. Die Welt selbst ist für jeden eine andre, bloß in sofern existirend als jeder sie wahrzunehmen, zu fassen vermag, ein Maaß unsrer Organe. —

Nimm vorlieb mit diesen wenigen unordentlich Aufgestellten Reminiscenzen, mit welchen ich noch viele Bogen füllen könnte ohne die Sache zu erschöpfen, welche ich übrigens auch nur im einzelnen begriffen haben. Darin stimm ich mit andern, die die Lehre besser verstehen und beurtheilen können als ich, überein; daß sie der dabey zum Grunde liegenden Idee selbst, und den einzelnen Beobachtungen nach, vortrefflich und höchst verdienstlich sey, nicht also aber in der Ausdehnung die er diesen Wahrnehmungen oft durch Schlußfolgen giebt bey welchen er mit abstracten Begriffen, des Rechts, der Wahrheit des Eigenthums pp abentheuerlich herumspringt, und fast radottiert. – Vortrefflich ists auf alle Fälle daß einer auftritt der dem Nachspüren des Unendlichen eines unendlichen die nothwendige Gränze der endlichen Natur wiederum setzt, und uns vor dem Schicksale des Icarus warnt. Daß der allzupractische Mann nur schiffen oder fahren will und auch den Flug des Dädalus schilt, darin geht er wohl zu weit. – Als Mensch ist der Mann sehr liebenswürdig und offen. Eigennutz wirft man ihm vor, vielleicht nicht ganz mit Unrecht. Doch ließe sich vieles darüber sagen.

Von Iffland hab ich Dir wenig zu sagen. Ich sah ihn und genoß wie man immer genießt wenn man etwas Vollkommenes sieht, in welcher Gattung es auch sey. Ein vortreffliches Bild, eine herrliche Musick, eine reitzende Gegend, ein ausgezeichnet schöner Mensch lassen im Gemüth des Aufmerksamen einen Eindruck des Wohlgefallens, der Beruhigung möcht ich sagen welche der |6 Character jeder reinen Freude ist. Diese empfand ich in vollem Maaße bey Ifflands Darstellungen vornemlich im Essigkrämer und im Gutherzigen (Le bon Pere v. Florian) . Einzelnheiten sind in der Relazion langweilig. Ich appelire an Dein Gedächtniß wenn Du ihn geseh hast, und hast Du ihn nicht gesehn, wenigstens nicht in diesen oder ähnlichen Rollen, nun so hilft auch kein Beschreiben.

Ich erwarte täglich unsern jüngsten Bruder. – Der arme Teufel hat seit Ostern das Fieber gehabt, und hat endlich seine Stelle darüber aufgeben müssen. Nun will er sich bey mir vollends auscuriren. – Da man in seinem letzten Dienste sehr zufrieden mit ihm gewesen ist, so hoff ich er wird bald wieder angestellt werden. –

In 8 Tagen schick ich Dir die Sachen und in 3 Wochen schreib ich Dir wieder. Was? Weiß Gott. –

Lebwohl

Jaques

D'Orvilles grüße herzlich von mir. – Einliegend ein Brief an Philipp d'Orville . Fleischmann sage ich hätte zufälligerweise einen 12 Teller von derselben Form gefunden und gekauft. –

Zitierhinweis

Von Jaques Henry Thieriot an Paul Emile Thieriot. Leipzig, 29. Juli 1805, Montag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1603


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Textgrundlage

H: BJK, Berlin V, 243
2 Dbl. 4°, 6 S. Auf S. 8 Adr.: Herrn | Paul Thieriot | wohnhaft bey dem Tischlermeister | Tripsch in der Domgasse | in | Offenbach | a/mayn. Postvermerke, Siegel, Siegelausriss und Zeichnung (Blumenblüte?).