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Heidelb. d. 13 Aug. 1817

Auf beschmuztem Papier will der Bruder seinem Abraham lieber schreiben, als gar nicht. Es ist dies mein lezter Bogen. Um fünf Uhr Morgens kann man noch kein Papier kaufen, und die Schreiblust aufschieben, wenn sie sich einstellt, geht auch nicht. – Vorgestern um 10 Uhr, wie ich heiß an der Arbeit size, kommt der wackere Muzenbecher: Der Fürst von Oldenburg sei da, sei so eben zu Boisserees gegangen, wolle mich dort schon sehen, und bitte mich, nachher bei ihm zu frühstücken. Ich war sogleich im Schuß. Wie freundlich empfing mich der herliche Landesvater! Er stellte mich selbst seinen Begleitern vor, dem Herrn von Gall, den ich schon kannte, und dem überaus liebenswürdigen Herrn v. Berg, oldenb. Präsidente am Bundestage. Ich fand den Fürsten nicht im mindesten gealtert, eher verjüngt, aber sein Haar ist völlig schneeweiß; und ich kann Dir nicht sagen, wie diese Mischung von greiser Ehrwürdigkeit und jugendlicher Rüstigkeit ihn ziert. Ich fühlte mich von Ehrfurcht durchdrungen, als ich vor ihn trat, und so war es wie beim weimarischen oder beim badischen Landesvater. Der ursprüngliche Landesvater ist der echte, nicht der, den der Zufall späterer Lebensverhältnisse und giebt. Er erkundigte sich theilnehmend nach den theuren Eltern, dann nach Dir und Hans, und sprach mit Achtung von Wilhelm. Mir war es merkwürdig, ihn über die Gemälde reden zu hören, so verständig, und dabei so bescheiden! In jedem Worte erkannte man den denkenden Kenner, der aber nicht belehren, sondern belehrt sein wollte. Zu meiner Freude führte nicht Bertram das Wort – dieser machte diesmal nur den Winkelcicerone – sondern der ältere Boisserée selbst, und auf eine so gewandte Weise, daß er sich nothwendig beim Fürsten beliebt machen mußte. Über Tische – denn ein förmliches Mittagessen war das sogenannte Frühstück – war der Fürst ungemein heiter, ja lustig, und nicht den geringsten Zwang spürte man. Über die Erhaltung unserer Universität konnte ich ihm die bestimmteste Auskunft geben, daß zwar im Ministerium, wo jezt der fatale Sensburg präsidirt, höchst wahrscheinlich lebhaft an einer Verlegung nach Freiburg gearbeitet wurde, daß aber der Großherzog sein Wort gegeben hätte, nie einzuwilligen. Nur meinen Gewährsmann bat ich um Erlaubnis verschweigen zu dürfen, und ich kann ihn auch jezt nicht nennen, weil ich aus dem Senat nicht schwazen darf, zu dem ich in gegenwärtiger Zeit als Dekan gezogen bin. Zwei Tage hindurch waren wir in großer Unruhe; aber jezt ist alles getröstet und sicher. Der Fürst fragte mich nach meinem Urtheile über Frau von Krüdener. Da ich das seinige nicht wußte, und des russischen Kaisers Vertraulichkeit mit ihr kannte, ließ ich mich bloß aus über die Valerie, die ich früher einmal in Weimar las, und nannte die Verfasserin eine Frau von hohem Geiste, hinzufügend, daß über ihre schwachen Seiten zu reden mehr denen ziemt, die sie genauer kannten. Mehr war nicht nöthig, ihm die Zunge zu lösen. Er sprach so derbe über sie, wie ich noch nie hörte, und zugleich wizig und schneidend. Sie sei ehemals eine Bettschwester gewesen, jezt eine Betschwester geworden; sie habe ehemals ein glattes Gesicht gehabt, da dies verloren gegangen, puze sie jezt ihr Gemüt recht christlich glatt, und mit vieler Anstelligkeit. Der König von Würtemberg, dessen Staaten sie mit ihrem Besuch bedrohe, habe ihm gesagt, er wolle die Polizei gegen ihn loslassen. Sie möge immerhin an den Kaukasus gehn, |2 und dort ihr neues Reich stiften, da schade es weniger, nur Deutschland sollte sie mit sich verschonen u. s. w. Du hättest den edlen Zorn hören sollen, womit er sprach, die Frucht der reinsten Sittlichkeit. Wie wünsche ich, außer den lieben Eltern und Brüdern, auch meinen Jean Paul herbei, aber der war in Mainz, und ist noch. – Der Hechtwirt brachte eine große Schüssel fast eutinisch großer Krebse. Der Fürst nahm einen, und fragte mich in dem selben Augenblick, ob ich Herr von Gerning kennte. – "Ja, Eur Durchlaucht, aber wie kommt der zum Krebs?" – Da bittet der Fürst den Herrn von Berg, die Erläuterung zu geben, und der erzählt nun, wie Herr von Gerning vor einigen Jahren Bräutigam gewesen sei von einem schönen, jungen, reichen, feurigen Jungfräulein. Angfangs liebt sie Gerning mit gleichem Feuer, troz seiner Geistesdürre und Mumienhaftigkeit. Je näher aber die Vermählung rückt, je näher rückt ihm auch die Angst; denn er denkt wie Göthe: "Unseliges Band, das auf ewig bindet!" – Los will er, der Freiheit zu lieb, aber wie? Das weiß er lange nicht. Endlich bittet er sich bei seiner Fräulein Liebsten auf eine Schüssel Krebse zu Gast. Sie, nicht das geringste ahnend, und selig in der Nähe des Geliebten, schenkt ihm fleißig ein. Als er den gehörigen Muth ertrunken, fängt er an: "Meine Gnädige, es ist die Natur der Krebse, daß sie rückwärts gehen; aber nicht bloß die Krebse thuns, sondern auch mitunter der Menschen Neigungen. So z. B. geht es mir in Rücksicht Ihrer, mein Fräulein". Das andre male Dir selbst aus. Der Fürst meinte, Gerningen müßten jezt Krebse ein Leibgericht sein, ihr aber ein Ekel. Herr von Berg fragte halb scherzend, ob das Gerücht wahr sei, Ich sei der eigentliche Verfasser der gerningischen Poesieen. Feierlich protestirte ich gegen eine so schmähliche Beschuldigung; ich mußte aber eingestehn, daß ich für ein erkleckliches Honorar seine Ovidübersezungen in die hexametrische und pentametrische Wäsche genommen, und mit derben und maulfüllenden Rhythmen ausgestattet. Den Fürsten machte es Spaß, daß ich anfangs mit großem Fleiß gearbeitet, und als die Früchte davon keine Gnade gefunden, mich zulezt ganz in sein Ideal hineinversezt hätte. Auch des Roßwettrennenden Cirkus wurde gedacht, und meines Stammbuchverses:

Gerning, du edeler Meister in roßwettrennenden Versen u. s. w.

Ein Jahr darauf kömmt mir Gerning schon mit seinen schon von Schreiber ausgewaschenen Taunusgedichten, und die heiligen Musen wissens, wie ich auch hier in Bewegung gesezt ward, Pracht und Schönheit, und vor allen Dingen Klang hineinzubringen. Für diese zweite Bemühung zahlt mir Gerning – keinen Pfenning, hat aber im nächstfolgenden Jahr die Unverschämtheit (in einem Briefe ohne das Wörtlein Ich), noch eine ganze Ovidlast "auf meine grenzenlose Güte" zu legen, "wiewohl er schon so tief in meiner Schuld sei." Wie ich troz meiner grenzenlosen Güte das Manuskript zurück schickte, knappe Zeit vorschüzend, und wie ich höflich die Schuld anerkannte, und |3 drauf sechzehn Brabanter Thaler erhielt, ist Dir bekannt. Aber der Fürst wußte es nicht, und hörte es mit großem Vergnügen. Nun ist Gerning in ziemlicher Verlegenheit. Unsterblich werden will er einmal, und keiner hilft ihm. Er hat sich schon an Matthisson und Buri gewandt. Die gaben ihm ein paar zierliche Bemerkungen mit schüchterner Höflichkeit, aber den Ocean von Klang, und Pracht, womit ich ihn überschüttete, den erschwingt keiner. Ich weiß noch wie selig er war, als ich ihm den Pentameterausgang Flutenbesänftigerin an die Hand gab, und wie wir nun eine schicklich Stelle im Taunusgedicht aussuchten, und die "Meerobwalterin", "das jungfräuliche Kind Afrodite" herbei holten, und drauf mit "Orkanen" und "tobenden Windsbräuten" einen ganz fürchterlichen "Wogentumult" erregten, den, nachdem er mehrere Distichen hindurch gebrüllt hatte, sie wieder in Ordnung brachte. Dem Fürsten sagte ich: "wenn Gerning sich in der Desperation noch einmal an mich wendete, dann sollte er für dreißig Abendstunden 400 Gulden Sündengeld vorauszahlen, und ich wollte mich selbst übertreffen. – Gleich nach dem Essen fuhr der Fürst weg, und ließ mich in stiller Seligkeit zurück, ihm so nahe gewesen zu sein, und auf so lange Zeit. – Heute vor acht Tagen, grad' um diese Stunde, ist Jean Paul, von den drei Paulus begleitet, mit meinem Köfferchen nach Mainz gereist. Ich kann noch grade zur rechten Zeit, diesen Koffer, den er schrecklich romantisch gepackt hatte, klassisch umzupacken; und versprechen mußt' er mir um seiner feinen und zierlichen Kleider willen, daß er auch in Mainz eine besonnene Hand, wo möglich eine hausmütterliche, zu Hülfe nehmen wollte. Schon zwei Briefe hab' ich von ihm und einen Sofie Paulus, die schier verliebt in ihn ist. "Mein guter Bruder!" (schreibt er) "Sofie wird oder kann Dir den offenen Himmel malen, in welchen ich sah, als sich mir der Rhein aufthat. Auf einer solchen Reise wie meine hat man keine Zeit, die Finger zusammen zu halten, und damit einen Pinsel langsam zu führen. Warte auf das Mündliche! Aber die Hauptsache jezo ist, daß am nächsten Sonntag die Oper Vestale von Spontini gegeben wird, — du und Sofie, und andere kommen sollen — und ich Sonntags Nachts mit euch wieder nach Hause will. Drauf habe ich noch drei Heidelberger Tage, und dann – Adio." Da weißt Du, wie wir jezt mit ihm davon sind. Den Rhein betreffend, muß ich eins nachholen. In Schwezingen führte ich ihn an die Atrappe und fing nun einigermaßen pathetisch an: "Da sieh, den Vater Rhein, wie er dem Ocean zufließt!" – "Ach, wie schön!", sagte er, und stand, leicht aufgeregt wie er ist, in ein seliges Staunen verloren. – "O, komm noch einen Augenblick," |4 bat ich, "daß wir den schönen Marmorrahmen in der Nähe bewundern, worin der Künstler die Landschaft wie ein Gemälde gefaßt hat". Er folgte mir, anfangs noch immer begeistert. Auf halbem Wege stockt seine Zunge mitten im Wort: "Ein verfluchter Rhein", sagte er, "und, alle Wetter, was ist das, da stehn ja Studentennamen in Luft geschrieben!" Und somit standen wir vor einem schändlichen Frescogemälde. Nun hättest Du die Gier sehn sollen, mit der er das Ding untersuchte, wobei er alle Optik, die in seinem Kopfe spukt, zu Hülfe nahm, und nachher die unendliche Gutmütigkeit, mit der er sich Preis gab, als wir zur übrigen Gesellschaft zurückkehrten. Paulus, der auch ganz verliebt ist in den herlichen Mann, wie wir alle, hat mich eingeladen, ihn in seinen Wagen zu begleiten. Ich muß Dir noch ein paar Lächerlichkeiten erzählen, deren sich täglich neue ereignen, und die ich mit Emilie und Elise sammle. Nach Jean Pauls Hunde Alert sind schon fünf Hündlein und ein Käzchen getauft. Denke Dir, Hunde Gevattern von Kazen! Einige, die so glücklich sind, [...] Hunde von Alerts Form zu besizen, stuzen ihnen Bart und Wangenhaare, um ihnen den rechten Jean Paulischen Zuschnitt zu geben. – Vor zehn Tagen etwa brachte ich Jean Paul zu den Harschern, und an uns schlossen sich Frau von Ende, Frau Gensler und die beiden weiblichen Paulus. Jean Paul hatte große Freude am Bilde. Um aber alles recht zu sehen, und besonders den Vorgrund, legte er sich auf die Erde. Da schrie mir Lisette die Brückenbauerin, leise ins Ohr: "O welche Wonne für mich, der große Dichter kniend vor dem Bilde meiner Schwester!" Und nun fing sie an, eine Flut von Lob über den großen Dichter und die geistreiche Frau von Ende zu ergießen, daß wir wahrhaftig Brücken nöthig hatten, um nicht zu ersaufen. Daß ich mein Theil auch abkriegte, kannst Du denken, und in Parenthesis auch Du und Hans, von dem sie erzählte, "eine Thräne sei ihm ins Auge getreten bei der Beschauung des Bildes". Das fehlte noch, daß der gute Hans zum Empfindsamen gemacht wird. – "Um Gotteswillen", sagte mir nachher Jean Paul, "heirathe mir die nicht!" Die Künstlerin hat ihm gefallen, sie stand auch bescheiden, und sprach fast nichts. – Übrigens ist ihm Lisettens Bekanntschaft sehr interessant gewesen so auch Mosers und andrer. Er sieht dergleichen als eigentümliche Naturprodukte an, und verarbeitet es als Romanstof. – Noch fügte ich hinzu: Nie ist ein Mensch in Heidelberg so allgemein geliebt, bewundert, gefeiert worden, wie Jean Paul. Und wie wirkt das auf ihn? Er ist immer sich selbst gleich, und freut sich, wenn er einmal einen Abend still für sich ausruhen, oder mit einem Freunde verplaudern kann. Auch nicht die leiseste Spur von Eitelkeit hab' ich in ihm gemerkt. Ich kann es nicht oft genug sagen: "er ist einer der biedersten, der seltensten Menschen", und ich muß täglich bedauren, daß ihn die Eltern, die Brüder nicht kennen lernten.

Ich sehne mich nach einem Brief von Dir, und nach der erwünschten Nachricht. Halte Dich gut, wackre Marie. Den Eltern schreib' ich, wenn ich wüßte wohin. Ich habe die Spur verloren.

Dein treuer BruderHeinrich.

Zitierhinweis

Von Heinrich Voß an Abraham Voß. Heidelberg, 13. August 1817, Mittwoch. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1690


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Textgrundlage

H: BSB, Vossiana, 46
1 Dbl. 4°, 4 S.

Überlieferung

D: Persönlichkeit, S. 187–189, Nr. 220 (unvollständig).