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Heid. d. 18 Sept. 1817.

Du hast Testimonia gefodert; – Hier! Und nun zu was Besseren, mein Herzensvetter. Ich benuze den ersten freien Augenblick, Dir zu schreiben, und früher als heut konnt' ich wahrhaftig nicht, da gleich nachdem Dörnberg fortwar , Himly aus Berlin kam, dessen Frau, Gleims Großnichte, meine Jugendgespielin ist. Wir haben köstliche Tage gehabt vom 6. Julius an bis zum 16 Sept., von Jean Pauls Ankunft an bis zu Dörnbergs Abreise; und nie hat Heidelberg ein paar liebenswürdigere und anmutigere Fremdlinge vereinigt. Dörnberg ward gestern vor acht Tagen, als er vom Bade zurückkehrte, von 80 Personen, bestehend aus dem Institute der Emilie, aus der Krapfriestei und Schwarzei und einigem Anhange, worunter Ich, in dem großen Schiffe aus Neckarsteinach abgeholt, und seitdem sind 6 Tage unter stillem Jubel verstrichen. Ich habe Dir von diesem herlichen Mannes schon einiges in einem an Overbeck erzählt (den Overb. Doch wohl Dir geschickt hat?), und grade so fand ich ihn auch diesmal. Er beschloß gleich, nur die nächste Umgebung der Emilie Heins zu besuchen, bei der er täglich zu Mittag aß, und dabei stand ich mich herlich, zumal da Dörnberg es mit dem größten Dank annahm, als ich mich zum Begleiter und Führer überall anbot. Du mußt ihn sehn diesen stattlichen Mann, den bloß gesehn zu haben schon erquickt. Du kannst wohl kaum anders reisen als über Zelle, und in diesem Fall lege ich Dir eine Art von Empfehlung bei, die Du auch zu anderer Zeit gebrauchen kannst. Ich habe Dich herzlich zu mir gewünscht vorigen Sonntag Morgen, als Dörnberg nebst anderen, die ich hinzugeladen hatte (z. B. Hegel, d. junge Carové etc.) bei mir ein freien Kaffe trank. Von halb sechs Uhr bis nach 9 saßen wir fröhlich zusammen bei Kaffe, Wein, Butterbrot, Zwetschen und Maulbern. Mit vollen Tassen, nachdem wir etwas Arrack hineingetröpfelt hatten, stießen wir an auf Jean Pauls Gesundheit, und dann auf Dörnbergs, den ich den soldatischen Jean Paul benante. Dann gingen wir auf den Schloßberg, und noch höher, den Königsstuhl sogar nicht scheuend; und am Nachmittage, nachdem wir bei Emilie tüchtig gegessen hatten, mit der ganzen weibl. Klerisei nach dem Wolfsbrunnen, von wo wir spät erst, etwa um 8 Uhr, zurückkehrten. War das nicht ehrenwerth? Und so machten wirs alle Tage; bald gings nach Ziegelhausen, bald nach [...] Neuenheim oder Rohrbach, und wer weiter wollte, dem standen Dörnbergs Prachtpferde zu Gebot. Bei Boisserées trafen wir eines Morgens mit Dannecker zusammen, dessen Entzücken hättest Du sehen und theilen sollen. Nicht mit dem Auge des Menschen allein, das bei Dörnberg so viele Nahrung findet, er sah ihn zugleich an mit dem Auge des Künstlers, und schien nicht anders als ihn mit zu den Bildern zu rechnen. "Ein herziges Köpfle!" flüsterte er mir mit seiner freundlichen Naivetät ins Ohr, "wäre ich nur ein halb Jahr um ihn, er sollte mir schon gelingen." – Und nachher sagte er, nachdem er lange mit Dörnb. gesprochen hatte: "Ich möchte ihn durchprügeln, so lieb hab' ich ihn". VorGestern Morgen ist Dörnberg fortgeritten, und seine Familie ihm gestern zu Wagen gefolgt. Heute Morgen Nachmittag kommen sie |2 bei Truchseß auf der Bettenburg an, Dörnbergs altem Freunde. Truchseß schrieb mir nämlich: "Ich war schon lange Mann, als ich mit Vertrauen und Hofnung zu dem Jünglinge Dörnberg emporsah, und aus diesem Vertraun ist nachher die innigste Verbrüderung geworden." O warum konnte ich nicht Ja sagen, als Dörnberg mich mit dringendem Zureden bat, ihn zu begleiten, und sein bequemes Pferd mir anbot! Konnte ich reiten, und so weit, konnt' ich das Haus, den Shakspeare verlassen? – Ich fühle aber, meine ganze Seele ist bewegt, wenn ich mir dies Wiedersehen zwischen solchen zwei Männern ausmale. – O qui amplexus et gaudia quanta ! Das hat mir Dörnberg versprechen müssen, und gar zu gerne versprochen, er wolle an der ritterlichen Tafel erst meiner Eltern, und dann meines Jean Pauls Gesundheit ausbringen. – Ob mir dieser Mann bis zulezt so ganz gefallen? Ja, Du lieber Heinrich, und am lezten Tage noch weit mehr als am ersten, weil ich ihn weit mehr verstand, diesen unergründlich tiefen, unergründlich guten Mann. Daß verschiedenartige Urtheile über den Herlichen Statt finden, ist wohl ganz in der Ordnung. Unser Martens z. B. kann ihn nicht ausstehn, so wenig wie der Fuchs die hohe Traube, oder in Shakspeares Wintermährchen die Bauerdirnen den Tanz – weil sie nicht dabei sind. Ich hatte ihn zu meinem großen Jean Paulpunsche eingeladen ; und Martens fing so eben ein weingeistreiches Gespräch mit Jean Paul an, als ich geschwind, aus Furcht er möchte mich blamiren, Schwarz und Daub als Riegel dazwischen schob, so daß Martens ganz verloren ging. Hinc illae lacrymae ; denn nun kann Martens nicht gegen Vettern und Basen mit der Bekanntschaft des großen Mannes pralen. Auf mich hat er nun eine grenzenlose Wut, was mir nicht weh thut, ihm aber desto weher; denn neulich ha t ben ihn, als er im badischen Hofe besoffen auf meine Anhänglichkeit an Jean Paul stichelte, die beiden mir sehr gewogenen Wangenheime aus der Thür geschmissen. Doch fort mit der Bestie, und – nachdem ich mir die Hand von der Besudelung rein gewaschen – wieder zu dir, mein herlicher Jean Paul! Es thut mir in der Seele weh, daß Du, mein Herzensheinrich, diesen Herzenszauberer nicht begegnetest, wahrlich ihr beiden hättet euch lieb gewonnen! Jean Paul ist keineswegs hingebend. Denke seines Ausspruchs: "Man sollte mit dem Du geizen, und Gott danken, daß man eine Sprache hat, wo man zwischen alle zwei Worte ein Sie, ein Hoch-, Wohl-, oder Sonst-geboren einschieben kann u. s. w."; gieb diesem Ausspruch die weiteste Ausdehnung und Du hast einen Theil seines Karakters. Wo er aber hingebend ist, da ist er es ganz. Dann bewundere und liebe ich an ihm die Weichheit des Gefühls, bei der unendlichen Kraft des Willens und des Verstandes, die Wahrheitsliebe, und die in der That rührende Unschuld in seinem ganzen Wesen. Ich kann ihm nie ohne Thränen zuhören, wenn er von Frau und Kindern spricht, an die er stündlich denkt, und täglich |3 schreibt, wenn er abwesend ist. Von dem hohen Schwunge seines Geistes, von seiner unerschöpflichen Laune sage ich Dir nichts; die kennst Du, die kennt jeder; aber die Liebenswürdigkeit und die Anspruchslosigkeit seines Wesens möchte ich Dir schildern können. Wie oft hab' ich mich, wenn ich ihm in sein freundliches Seelenauge blickte, gedrungen gefühlt, seine Hand zu ergreifen, und ihm ein Wort der Liebe, gewöhnlich ohne alle Sprache, ins Herz zu drücken! Ich habe das Glück gehabt, ihm so nahe zu stehn, wie in Heidelb. keiner; aber dann fühlt man auch recht die Höhe des Manns, und wird wie durch Gottes Stimme an die Demut gemahnt ! . Weil Jean Paul so anspruchlos dasteht, denkt mancher, er sei wie Unsereins; und in dieser Hinsicht hatte ich viel von ihm abzuwehren. Eine geistreiche, alberne Jüdin bat ihn, oder vielmehr wollt' ihn durch mich bitten, einen Brief an eine Freindin (nicht etwa Freundin) nach Mannheim mitzunehmen, und selber zu bestellen. "Jean Paul ist kein Briefträger", fuhr ich sie an, "und daraus wird nichts", daß sie zusammenschrack und gewiß blaß geworden wäre, wäre sie nicht arg überarg geschminkt gewesen. Ich habe unter viel ernstem, viel Scherzhaftes, ja mitunter auch, wenn es Zeit und Laune foderten, ein leichtfertiges Wort mit J. Paul gewechselt; nie aber hab' ich ihn mit plumper Vertraulichkeit angetastet; und stets werde ich fortfahren sein mir am vierten Tage geschenktes Du mit Ehrfurcht zu erwiedern. – Ich muß Dir noch einige Züge erzählen. Bei einem großen Thee, an welchem unzählige Christen und Juden Theil nahmen, ward ich von Schwarz aufgefordert, Jean Paul an das andere Ende des Zimmers zu führen, während sich die Gesellschaft in zwei Kolonnen stellte. "Ach"! sagte Jean Paul, der gleich merkte, was geschehen sollte, "da soll was Theatralisches kommen, wende ihn ab von mir den bitteren Kelch!" Und dabei sah er so bittend aus, daß es hätte einen Stein rühren können. Sogleich trat ein kleiner Knabe auf, ein schlecht zusammengeflicktes Gedicht auf den Ruhm und die Unsterblichkeit herzusagen; aber schon bei der dritten Zeile stockte er, und kein Zuflüstern half. Wie es nun mit dem Ruhm gar nicht vorwärts wollte, nahm Jean Paul den Knaben, küßte ihn und sagte: "Du hasts gut gemacht, lieber Junge; nun laß nur sein". Hör, Vetter, die Feierlichkeit war gestört, und wollte gar nicht von Neuem feierlich werden, zumal da einige von uns lachten. Gleichwohl nahm Schwarz einen Lorberkranz, und wollte ihn "dem großen Dichter" aufsezen. Nun fing Jean Paul, der viel stärker ist als der schmächtige Schwarz mit diesem zu komplimentiren und sich zu balgen an, und hatte ihm richtig schon den Kranz über die Stirne gebracht, als Fremde aus Manheim, Vincentis, hereintraten, u. dem Puppenspiel ein Ende machten. "Gottlob, Alter", sagte mir leise Jean Paul, "das ging noch so ziemlich vorüber." Der Kranz ist auf das Haupt des Schuldigen zurückgefallen." – Die Hofräthin Dapping, bei der Jean Paul auch einmal theen und punschen und weinen mußte, bat ihn, er möchte doch zu allen Mädchen der Reihe nach über ihren Geist, ihre Talente, Neigungen und |4 Fortschritte ein Wort sprechen ; und sogleich wurden die Mädchen wie Orgelpfeifen neben einander gestellt, u. jeder eine Schale Thee in die Hand gedrückt, vielleicht als Ableiter der Verlegenheit, wie wir manchmal den Hut gebrauchen. J. Paul, der nun gar nicht solch ein Herzenskündiger ist, daß er mit jeder sogleich Bescheid wüßte, auch sich nicht lächerlich machen wollte, wie er mir nachher sagte, und doch Lust hatte, seiner angenehmen Wirtin gefällig zu sein, nahm das Rummfläschchen, tröpfelte jeder ein anderthalb Tropfen in die Tasse, und fragte der Reihe nach mit wahrhaft holdseligem Ton: "Können und mögen Sie tanzen, liebes Kind – und Sie doch auch – und Sie etc. – Das erregte nun einen Jubel unter den Mädchen. Sogleich wurden die Stühle weggetragen, die Tische geräumt, und in 10 Minuten war der Tanz im Gange. – "Hab' ichs nicht gut gemacht, Alter", fragte mich Jean Paul, "sieh mal, die Mädchen sollten Geist von mir haben, sie haben an den genug gekriegt, und ich den meinigen gespart. Und nun gieb acht, wie flink die Beine sein werden, wenn erst das Tröpflein zu Kopfe steigt". Bald darauf tanzten etwa 20 Paar um J. Paul herum, ihn in vielen Kreisen umschlingend. Als sie zurücktanzen wollte, hielt er die Masse fest mit starkem Arm, und rief: "Jede Jungfrau löse ihre Freiheit mit einem Doppelkusse". Und das thaten die Mädchen nur gar zu gern. "Noch nie", sagte die ernsthafte Frau Hofräthin, "ist dergleichen im Institute begegnet; aber auch nur ein Mann wie Jean Paul durfte sich die Freiheit nehmen." Dann entwickelte sie, wie wohlthätig dieser Kuß auf die Mädchen wirken würde, wenn sie erst des großen Mannes Werke läsen. Ob sie recht hat, ob nicht, ich weiß es nicht; aber das weiß ich, die Fr. Hofräthin muß in Zukunft solches wohlthätigen Nachgenusses entbehren. Als ich Jean Paul beim Zuhausegehn fragte, warum er nicht auch die Frau Hofräthin geküßt hätte, sagte er: "entweder die Mädchen mußte ich küssen, und nicht sie, oder sie und nicht die Mädchen." Und wahrlich er hat Recht. Wäre es nach dem Herzenswunsche der Frau Hofräthin gegangen, so wäre das unschuldige Spiel zur verzerrten Galantrie geworden. – Wenigstens zwanzig Frauen u. Mädchen sind hier in Jean Paul verliebt geworden, und ich begreife es; denn eine Anziehungskraft liegt in dem Manne, die wohl der tiefste Blick in die geheime Magie der Natur nicht ergründen soll. Mir wenigstens enthüllt kein Nachgrübeln, wo denn eigentlich der Magnet in diesem einzigen Manne stecken mag. – Ich sprach einmal mit Jean Paul lange über eine Fräulein v. Feuchtersleben, und |5 eine Regierungsräthin Schwendler, die ich beide kenne, und von denen ich wußte, sie hatten vor Jean Pauls Vermählung ganz gewaltig um seine Gunst gebuhlt. "Da wär' ich an die rechten gekommen, besonders was die lezte betrift! Ich bin manchmal eine Art von Tollkopf, und sie ist noch zehnmal toller als ich, zu allen Zeiten; das wär' ein tolles Leben geworden, und was für tolle Kinder hätte das gegeben!" Und dann sprach er über seine herliche, sanfte, liebe Frau, die ihm Gott geschenkt, und seine lieben Kinder, und zeigte gab mir alle Briefe von ihnen zu lesen, die das vollkommen bestätigten. – Ich könnte ganze Wochen lang über diesen Mann schreiben; aber die Zeit erlaubt es nicht. – Den lezten Mittag aßen wir bei Paulus. Er war sehr gerührt, und mußte sich alle Gewalt anthun fest zu bleiben. Als ich nach Verabredung um 4 Uhr zu ihm kam, seinen Koffer, in den er verwünscht zuviel gepackt hatte, ein wenig nach der Regel umzupacken, fand ich ihn aufs äußerste bewegt. Er hatte sich aufs Bett geworfen, und die Augen waren ihm rothgeweint. Nicht ansehn durfte ich ihn, nicht ein Wort der Liebe zu ihm sagen, nicht die Hand ihm drücken, gleich weinte er von Neuem. Ich bat ihn, sich gar nicht um mich zu bekümmern, ich wollte lesen, u. er sollte unterdeß alles was in die Koffer sollte, und nicht, auf besondre Stühle legen. Das geschah, aber unterdeß wußte ich doch so allerlei zu sprechen, und seine Blicke auf sein liebes Baireut zu richten, daß er am Ende wieder ganz heiter ward. Nun kam auch die Bitte zum Vorschein, die lange nicht herausgewollt hatte, ich sollte ihn morgen noch einige Stunden begleiten. Und sieh, lieber Vetter, grade das ihm anzutragen, war meine Absicht, wenn er wieder stark geworden war, um von Trennung und Abreise zu sprechen. "Habe Dank, du guter Bruder", sagte er, "so soll ich mich denn nicht von allem auf Einmal losreißen". Ach! wie herzlich war er den lezten Morgen, als ich um halb 5 Uhr zu ihm kam. "Wenn in 6 Jahren", sagte er, "mein lieber Max zu euch kommt, sei ihm, was du dem Vater bist. Er ist ein unverdorbener Junge, vielleicht etwas leichtsinnig. Er soll da studiren, wo sein Vater von so vielen geliebt wird. |6 Das ist ein zweites Gewissen für ihn. – Ein junger Mensch ist wie Oxhoft voll Pulver, durch eine Stadt voll Wachtfeuer gefahren; nimmt mans nicht sorgfältig in acht, so entzündet es sich, und fliegt auf". Als wir zu Wagen gestiegen waren, bat ich ihn mir viel von seiner Familie zu erzählen, was er mit ganz unbeschreiblicher Wärme that. Wir kamen bis Neckargemünd, frühstückten ein wenig, erinnerten uns der frohen Tage in Neckargemünd, besonders einer Schiffarth . Ach! es war mir nicht möglich, mich von dem Geliebten zu trennen. Ich stieg von Neuem ein, u. wir kamen nach Wiesenbach; ich konnte und konnte nicht fort: auch hielt er beständig meine Hände mit den seinigen. Endlich mußte denn doch geschieden sein. Noch einmal, als ich den Wagenschlag zugemacht hatte, ergrif ich seine treue Rechte, und drückte den Kuß der Ehrfurcht darauf. Und als nun der Wagen fortrollte, ach da erging es mir, wie diesen Augenblick von Neuem, ich mußte weinen. Ich schäme mich nicht, es meinem geliebten Vetter zu gestehn.

Ich weiß, Du bist überzeugt, daß ich nicht zu den empfindsamen Seelen gehöre, die bei jedem Quark gerührt werden; auch weißt Du, daß ich wenigen Menschen meine Gunst schenke, u. daß ich nicht bloß lieben, sondern auch hassen und verachten kann, wo es Noth thut. Wenn mir aber nun Männer entgegen kommen wie Truchseß, wie Jean Paul, wie Dörnberg, die genug und dann meine ganze Seele in Bewegung geräth, so muß doch wohl in diesen Männern der Grund zu suchen sein, und nicht in mir. Ich hoffe, mein theurer Vetter, Du sollst noch einmal zu Jean Paul kommen, und zu Truchseß, und dann so recht fühlen wie ichs meine. Im Voraus sag' ich Dir, Du wirst bei beiden die herzlichste Aufnahme finden. Halte es nicht für ein fades Wort, wenn ich sage, die Hälfte von Jean Pauls Umgang wollte ich missen, könnte ich sie Dir und meinem Abraham zuschanzen, und drei Viertel, könnte ichs der Mutter schenken. Du sollst einmal, |7 wenn dein Examen vorbei ist, und sich Gelegenheit findet, [...] an Jean Paul [...] Mich hat Jean Paul dringend gebeten, ihm über seine Werke, so wie eins neu gedruckt wird, spezielle Kritiken zu senden, was auch geschehen soll. Aber zugleich hat er mich gebeten, nie öffentlich über ihn zu reden. "Du würdest", sagte er, "alle Augenblicke ein Auge zudrücken, und die Liebe würde dem Verstand und der Einsicht zuvorrennen". Er mag nicht ganz Unrecht haben; aber in meinen schriftlichen Kritiken werde ich ihn scharf und unverholen rügen, wo ich nach Überzeugung rügen muß. Und das ist ihm recht, so wie er selbst ganz ungemein scharf gegen sich selber ist, wie Dir Ostern sein neuer Siebenkäs beweisen wird. Es will mit dem Schreiben nicht mehr. Ich denk' aber, ich habe ich von 10 Uhr abends bis zur Mitternachtstunde recht ordentlich angegossen. und anderthalb Seiten schrieb ich heut Morgen. – Nun schicke mir der liebe Himmel einen schönen Traum von J. Paul; und morgen früh bringe ich den Brief zu Ende, wenigstens dies Blatt; denn ich möchte Dir ewig fort schreiben.Gute Nacht!

d. 19. September.

Dank für die Nachrichten aus der Familie . Grüß Deine herliche Mutter, und die Frau von Grevemeyer, und Deine Schwestern , und Lüpke , und zwar lezteren nicht unbekannter, sondern bekannter Weise: ich hätt' ihn gar zu gern einmal gesehn. Ich fragte einmal Michaelis nach Lüpke, und hörte, er sei ein Mensch von vielem Verstande, aber sehr kalt; drob ich herzlich im Innern lachen mußte, weil ich eines Wortes von Dir gedachte von wegen des Freundschafttreibens. So ist Martens auch, der noch 10000 Klafter unter Michaelis steht. Die liebe Julie soll sich brav halten. Ach wie gerne säh' ich euch alle wieder, aber die Mutter kommt ja nächsten Sommer mit Deinen Schwestern, und dann sollen alle sehn u. fühlen, daß meine alte Anhänglichkeit die selbige ist. Ja, wenn dann Jean Paul dawäre! Der sollte auch den Schwestern gefallen, dafür steh' ich. Und die Schwestern sollten ihm jede einen herzlichen Kuß geben. Michaelis 1818 fahre ich mit Abraham nach Beireut, und von dort gehts auf die Bettenburg, u. Jean Paul geht mit, und sein Max auch. A Alles ist schon von mir angeordnet, wo jeder wohnen soll. O die Bettenburg, eine wahre Zauberburg, wo man zugleich bürgerlich und idealisch lebt! Ich kann heut mein Gedenken nicht von ihr ablenken. In diesem Augenblicke, das weiß ich, sizt Truchseß mit Dörnberg auf dem Sofa linker Hand, wo ich ihm vorzulesen pflegte. Auf dem Tische steht der Kaffe auf brennendem Spiritus, daneben Butter u. Brot u. Wurst. Dörnbergs kleines Töchterchen, ein Engel von zwei Jahren, wie Rafael keinen in der höchsten Begeisterung sah, spielt und tollt im Zimmer herum u. s. w. Ist mir doch, als wäre ich mitten im Zimmer, unter all den bekannten Stühlen und |8 Tischen u. Weisen und Menschen! Das, lieber Vetter, sind Augenblicke, wo man verwünschen möchte, an Raum und Zeit gebunden zu sein, wo man zu den Lieben in der Ferne hinfliegen möchte auf Fittigen der Liebe und des Gedenkens. Ich bilde mir ein, sie müßten jezt von mir reden, die Herlichen; und zum Danke dafür will ich auch den ganzen Tag nicht aufhören, an sie zu denken; und auch morgen früh bei ihnen sein, wenn dort die bittere Stunde der Trennung schlägt. – Abraham wird auf einen neulichen Brief von mir nach Jena gehn, und dort Dörnberg wenigstens eine Stunde sehn. Und o Wann, wenn meine Eltern die Dörnbergs noch unterwegs träfen. Man kann gar nicht vermuten, wo etwa; aber das Schiksal ist manchmal seinen Lieblingen hold.

All Deine Aufträge sind besorgt. Aber nun bitt' ich Dich ernstlich, sprich mir nichts von fünf Gulden, oder was weiß ich. Meine Bücherrechnung bei Mohr und Winter ist längst abrecensiert, und Dir gebührten ohnehin noch mehr Bücher als Du bekommen hast; aber auch davon soll zwischen uns nicht mehr die Rede sein. [...] Du [...] nur dann u. wann Recensionen, so soll es Dir an [...] Werken nicht fehlen, das sag' ich Dir.

Meine Mutter war krank in Lübeck, und ist nun ganz gesund. Ein solches Fieber soll stärken, wie mir alle Ärzte hier sagen.

Einliegenden Brief schicke auf die Post, nachdem Du ihn mit einer Oblaten versiegelt hast. Aber vorher lies ihn mit den Deinigen, weil er doch noch ein klein wenig von Jean Paul enthält.

Meinem krausköpfigen braunen Kanarienvogel gab ich das graue krausköpfige Weibchen. Er ist glücklicher Vater von vier braunen Jungen geworden, die alle – glattköpfig sind. Immer saß er beim Weibchen im Neste, worüber Jean Paul so herzliche Freude hatte.

Ich hätte Dir noch tausend Sachen zu sagen. Aber die zeit ist abgelaufen. – Jezt, da die schönen Tage von Aranjuez vorüber sind , muß wieder fleißig gearbeitet und mit der Zeit gegeizt werden. Leb wohl, Du Theurer, und all ihr theuren lebt wohl. Die Schwestern mögen diesen Brief als mit an sie gerichtet ansehn. Dann schreiben sie mir wohl.

Dein Heinrich V.

Zitierhinweis

Von Heinrich Voß an Heinrich Boie. Heidelberg, 18. und 19. September 1817, Donnerstag und Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1693


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Textgrundlage

H: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, N. Bäte, 1,004
2 Dbl. 4°, 8 S.

Überlieferung

D: Bäte, Kranz um Jean Paul, S. 38–47 (unvollständg).

D: Persönlichkeit, S. 200–201, Nr. 224 (unvollständig).