Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.



|1
Heidelbrg, d. 14 Nov.
1817.

Dank, liebe Cousinen, für eure schönen und freundlichen Briefe , die mir recht wohl gethan haben, und denen nichts fehlte, als die erwünschte Nachricht über Heinrich, der wir verlangensvoll entgegensehn. Wo nun der liebe Vetter sich hinwenden wird? Ich fürchte immer, sein Bruder beredet ihn nach Copenhagen zu gehn und das wäre mir schon darum nicht recht, weil es meines lieben Heinrich Neigung entgegensteht. Er will, wie er mir sagte, lieber in Kiel advociren, und darin find' ich nichts entehrendes oder geistlähmendes; auch bin ich überzeugt, daß sich für den braven, in jeder Hinsicht liebenswürdigen Vetter bald ein schickliches Amt finden wird. – Wer der Verfasser des Aufsazes in der eleganten Zeitung sei? fragst Du? liebe Luise. Er heißt Schumacher, er war schon Rektor an der Schule in Arolsen, ist aber jezt Erzieher des hier studierenden Prinzen von Waldeck, und mit dem Assessortitel von Neuem ein juristischer Student geworden: ein sehr liebenswürdiger junger Mensch, und Verfasser von mehreren Gedichten, die sich gut lesen lassen. Eine ganze Sammlung solcher Gedichte überschickte er Richtern im Manuscript mit einem freundl. Briefe ohne Unterschrift , und diese hatten das Glück, Richtern sehr zu gefallen. Als Nachschrift standen die Worte: "Nächsten Sonntag seh' ich den Liebling meines Herzens auf dem Schiffe." – "Kennst du die Handschrift?" (fragte mich Jean Paul) "aber nenne mir nicht den Verfasser; ich will ihn schon selbst finden, und wenn er unter tausenden versteckt wäre". Ich kannte weder Handschrift noch Verfasser, denn der Prinz war erst einige Tage in Heidelberg. Auf dem Schiffe fragte mich Jean Paul: "wer der junge Mensch wäre", auf einen Jüngling hindeutend, den ein sehr lebendiges Auge auszeichnete. "Der Prinz von Waldeck", antwortete ich, denn so hatte ich eben von meinem Nachbar vernommen. Bald fügte sichs, daß wir beide zugleich mit ihm ins Gespräch kamen. Ich erstaunte, einen Prinzen so |2 gescheut und zugleich so gelehrt reden zu hören, und wir vertieften uns so in die Sachen, daß wir die Person ganz vergaßen, und mit ihr die gebührende Höflichkeit des "Ewr. Durchlaucht" und "gnädiger Herr" u. dgl. Endlich dachte Jean Paul daran, ein Durchlaucht in seine Rede zu flicken. Da ergab sichs, es war nicht der Prinz, sondern der oben genannte Schumacher, und die Durchlaucht war ein entsezlich dicker, rothbackiger, kleiner Pummel, der daneben stand. Während dem Essen, nachdem Jean Paul die übrigen Theilnehmer der Fahrt auch kennen gelernt hatte, rief er mit einmal laut über die lange Tafel: "Herr Schumacher, Sie sind Verfasser der schönen Gedichte, und ich danke Ihnen". Und so wars auch. "Das wußt' ich wohl", sagte mir nachher Jean Paul, "daß ich ihn herausfinden würde." – Dieser Schumacher nun kam zu Jean Paul, um Abschied zu nehmen, als wir eben den Koffer packten, und sein Beistand wurde mit dem größten Dank angenommen. Uns beiden also hat Jean Paul zu verdanken, daß alle seine sauberen und netten Kleider, die ihm seine Frau so ordentlich gepackt hatte, nicht in der schrecklichen Verwirrung zu Grunde gingen. Denn das Kofferpacken versteht Jean Paul ungefähr so, wie Euer ehemaliger Thießen Galls Schädellehre und die Kantische Philosophie. Übrigens ist Jean Paul in seinem Anzuge sehr reinlich und ordentlich, ja mitunter sogar elegant, wie am Tage des akademischen Schmauses , wo er sich recht geputzt hatte; auch herrscht Ordnung und höchste Reinlichkeit auf seinem Schreibtische in seinen Papieren, und er versteht, was nicht alle Genies können, ein ordentliches Briefcouvert zu machen. Ich wollte, ich könnte zeichnen, so mahlte ich ihn auf die nächsten Seite hin, und vergäße auch die Nelke nicht, die er sich jeden Morgen ins oberste Knopfloch linker Seite steckt. Ja wohl, Vetter Heinrich hätte den Herzens |3 mann sehn sollen, sie hätten sich wechselseits lieb gewonnen, das weiß ich. Aber ihr, liebe Cousinen, solltet ihn auch sehn. Aber freilich, dabei wäre ein gefährlicher Umstand zu überwinden.Jean Paul hat die schreckliche Untugend, allen artigen Mädchen einen Kuß zu stehlen, und gewöhnlich hört er erst auf beim 24 Kusse, ja wohl gar erst beim 136sten. Und noch immer ist es mir unbegreiflich, daß keine der Heidelberger Frauen und Jungfrauen, die alle darunter litten, ihm gram geworden. Herr Gott! wie ward mir, als ich solchen Greuel ansah, und 26 mal nahm ich mir vor, das seiner Frau zu schreiben – aber was that der Verruchte? Er schrieb das alles selbst seiner Frau, und entblödete sich nicht, mir den Brief zu zeigen. Ihr seht, liebe Cousinen, der Mann hat seine großen Fehler, und daher spannt nur immer eure romantische Vorstellung von ihm etwas herab. – Eine Frau hier hatte Husten Lust, sich von Jean Paul magnetisiren zu lassen. Ich sagte ihr mit ganz ernsthaftem Gesichte, es wäre dabei ein schrecklicher Umstand, es entstünde nehmlich eine unwiderstehliche Zuneigung zum Magnetiseur. "O", meinte sie, "wenns weiter nichts wäre, das könnte man schon ertragen." – Seht, so sind wir Heidelberger.

Daß Heinrich wohl nicht diesmal den köstlichen Dörnberg gesehn hat, thut mir leid. Der ist ein ganz anderes Wesen als Jean Paul, in der äußerlichen Erscheinung, in Art und Weise der Bildung, in der Richtung des Geistes ihm ganz unähnlich; aber durchaus ähnlich in dem, was doch das Edelste im Menschen ist, in Seelengüte, in edler Willenskraft, in Bescheidenheit, und in jener schönen Mischung von Weichheit des Herzens und unerschütterlicher Festigkeit. Wahrlich, wer Dörnberg im Kreise der Seinigen sieht, wenn er mit seiner kleinen zweijährigen allerliebsten Auguste spielt, der sollte nicht glauben, daß dieser fast übermäßig weiche Mann ein Held in der Schlacht sein könnte, und auf dem Schlachtfeld soll, wie mir noch gestern einer sagte, der unter ihm gedient, keine Spur von Weichheit an ihm sichtbar sein. Beide Eigenschaften müssen |4 in der höchsten Vollkommenheit sein, sonst vertrügen sie sich nicht in der Mischung. Mein Bruder Abraham, bei dem Dörnberg mehrere Stunden war, schreibt mir ganz entzückt über ihn. Er meint, solche Anziehungskraft hab' er noch bei keinem Menschen gefunden, und so urtheilt jeder, nur der Gefühllose nicht; denn glaubt nur das Unglaubliche, es giebt ihrer, die auch einen Dörnberg und einen Jean Paul durch die Hechel ziehn. Die haben aber auch ihren Lohn dahin; denn das ärgste, das man selbst einem Feind nicht anwünschen sollte, ist verstockte Gefühllosigkeit gegen edle Menschen. – Jean Paul, der lange stumm war, soll, denk' ich, durch diese Reise recht aufgeregt worden sein. Er hat noch lange nicht ausgesungen; er wird es nie, und der lezte Schlummer – o sei er fern! – wird ihn bei einem unvollendeten Werk überraschen. Ihm wird das schöne Loos zu Theil werden, das Schillern ward, er wird – und sei es im Greisenalter – in der Blüte und Frische seiner vollen Kraft sterben, und in der Gestalt auf der grauen Tafel der Erinnerung fortleben. – Nach Baireut zieht es mich mächtig hin, seine Richters Frau soll ein trefliches Weib sein, wie mir Truchseß schreibt, und all' ihre Briefe bestätigen, und die Kinder höchst liebenswürdig. Nie sprach Jean Paul von diesen, ohne daß ihm eine volle Thräne im Auge glänzte.

Der Winter rückt heran mit Macht; er sei willkommen; er ist mir ein behaglicher Gast; und wenn er so recht seine Schneeflocken vom Himmel schüttelt, dann wird mir und meiner Arbeit am wohlsten. Euch beiden Schwestern wünsch' ich Glück, daß ihr euch nicht trennen sollt.

Nehmt mit diesem flüchtigen Briefe vorlieb. Mir fehlt eigentlich die Zeit zum Briefschreiben, und doch wollt' ich die gute Gelegenheit, die den Brief nach Göttingen fördert, nicht ungenuzt vorbeigehn lassen.

Die herzlichsten Grüße u Empfehlungen der lieben Mutter, u. der Frau von Grevemeyer, und wenn ihr schreibt, den Brüdern. – Euer treuer Vetter

Heinrich Voß.

Zitierhinweis

Von Heinrich Voß an Luise und Julie Boie. Heidelberg, 14. November 1817, Freitag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1696


Informationen zum Korpus | Erfassungsrichtlinien

XML/TEI-Dokument | XML-Schema

Textgrundlage

H: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, N. Bäte, 1,5
1 Dbl. 4°, 4 S.

Überlieferung

D: Bäte, Kranz um Jean Paul, S. 47–52 (unvollständig).

D: Jean-Paul-Jahrbuch, Bd. 1 (1925), S. 214–218.