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Korrespondenz

Von Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken. Heidelberg, 29. und 30. Juni 1818, Montag und Dienstag

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Lies Idens diesen Brief vor.Grüß auch herzlich die beiden Schwestern.
Heidelb. d. 29 Jun. 1818, am
Peter- und Paul-Tage.

Ja wohl, Du hast Recht, als ich Deinen Brief empfing, saß ich neben meinem teuersten Jean Paul, und daß er mitlas, versteht sich von selbst, zumal da er Dich gewaltig aus meinem Gespräche kennt. Morgen vor 14 Tagen hohlte ich ihn ein, und – übermorgen bringe ich ihn wieder nach Neckargemünd, um dort den Kuß des Abschieds ihm auf die Lippen zu drücken. So kurz bleibt er diesmal; aber er kann nicht anders; er hat es mir nur zu deutlich gemacht. Diesmal hatten ihn die Frankfurter so lange. Als ich ihm zwei Stunden entgegen ging – jeden Wagen, der mir entgegen kam sah ich drauf an, ob es der Jean Pauls-Wagen sein möchte. Endlich sah ich in eine r m stattlichen sein geistreiches, freundliches Gesicht und er mich. "Kutscher, Kutscher", schrie er, "halt doch, halt doch!" – und mit diesem Worte war er auch schon aus dem Wagen gestürzt, und wir lagen einander in den Armen, vor Freuden und Rührung weinend. Jean Pauls Hut war weit hinaus in das Kornfeld geflogen. Mir kommt der Mann noch viel liebenswürdiger vor; aber die Liebe macht wirkt das. Das lange Jahr war wie fortgeweht, und ich knüpfte an die vorige Trennung das neue Wiedersehen an. Kein ordentliches Gespräch ward unterwegs geführt, über alles nur so schwadronirt, und ich konnte mich gar nicht satt sehen an dem lieben freundlichen Gesichte, dem Mund voll Güte, der hohen Stirn und dem feurig beredten Auge, und immer hielten wir die Hände zusammen. Ich war in der That ein wenig müde, von dem langen Wege und der Hize. Aber Jean Paul hatte was schön erquickliches bei sich: eine große Flasche des köstlichen Weines, und eine Viertelpastete, ihm von Frankfurter Kaufleuten auf die Reise mitgegeben. Da auch er außer seinem Kaffe noch nichts genossen hatte, ließen wirs uns wohl schmecken – und unser Freund Sancho hat nicht frischer Gekaut, und seinen Weinschlauch zärtlicher umarmt, und mit zum Himmel gehobnem Blick daraus gekluckt, wie wir aus unsrer Flasche, die auch rein geleert ward. "Der Hurensohn, das war ein Wein!" – Gleich nach unsrer Ankunft führte ich meinen teuren Freund den |2 Eltern zu, die ihn gleich über alles lieb gewannen, und gar nicht satt werden können, von ihm zu reden, und über ihn Briefe zu schreiben – das letztere gilt indeß bloß von der Mutter. Der Wirth vom Karlsberge, wo er wohnt, beherbergt ihn nicht als Gast, sondern als Freund, und das mit einer Aufmerksamkeit, die was rührendes hat. Gleich den ersten Mittag lud er zwölf Gäste auf Jean Paul, und nachher mich u. andere, so oft wir wollen. Bei uns hat schon J. Paul schon fünf mal zu Mittag gegessen u. zwei mal zu Abend, und wie wohl wird ihm jedes mal, wenn er über die Schwelle tritt. Der Puter ist auch schon verzehrt. Jean Paul über seine Frau u Kinder reden zu hören, ist eine wahre Wonne. Meine Mutter ward neulich gefragt: "Nun, wie gefällt Ihnen Jean Paul?" – "Gefallen?", sagte sie, "gefallen? – und ein anderes Wort wissen Sie nicht für solch einen Mann?" – Meine Mutter hatte unrecht, aber Du siehst, wie Jean Paul sie elektrisirt hat. – Ja, liebster Abeken, könnten wir beide den einmal nur für uns haben in Osnabrück, nur zwei Tage lang, o wie wollten wir uns an diesem warmen Herzen erlaben. Du solltest ein wenig aus dem Häuschen herauskommen und der lieben Frau Christel sollte so recht innig wohl werden. Glaube ja nicht, daß ich nun Arbeit u. alles liegen lasse. O nein. Morgens von 6-7 les' ich Collegium; dann geh' ich zu meinem Theuren, den ich manchmal noch im Bette gewöhnlich aber schon am Kaffe finde. Da bleib' ich ein Viertelstündchen, und geh dann an die Arbeit, die mir nie besser gelingt als in solcher Zeit. Nachmittags von drei Uhr an gehöre ich ihm ganz, und überall wo er ist bin ich auch, selbst bei ganz unbekannten Personen, denn alle wissen, wo der David ist, darf sein Jonathan nicht fehlen. Zum Briefschreiben bleibt dann freilich nur geringe Zeit. Und so bitt' ich Dich im Voraus, nim Vorlieb mit diesem: er soll, wie er auch hingestellt |3 wird, doch alle Fragen beantworten. Lotte Schütz hatt' ich ganz vergessen. Gestern Abend, als wir von einer Theevisite zurück kamen, und dann noch auf Jean Pauls Sofa in der Dunkelheit bis ¾ auf Zehn fortplauderten, befragte ich ihn, und erfuhr nun, Lotte Schütz habe mich in der That heiraten wollen. Jean Paul, wie es scheint, sollte den Kuppler gemacht haben. Er erschrak über das Bild, das ich ihm nun von ihr entwarf. In ihren Briefen, meinte er, habe sie sich anders gezeigt, u. stellenweise sogar liebenswürdig. Nun ja, die Ende hatte sie in der Gewalt, und außerdem viel erworbene Natur und erlerntes Gefühl, womit sie den Leuten auf den Leib rannte. – Weg mit der! – Daß des herrlichen Dörenbergs zwischen uns häufig gedacht wird, kannst Du denken; mir ist immer, als fehlte nur der uns, dieser militärische Jean Paul, und daß Jean Paul diesen göttlichen Mann so liebt, das freut mich in die innerste Seele hinein.

So weit schrieb ich vor 6 Uhr. Jezt um halb Acht, nachdem ich meinen Thurm besucht, will ich in den Anmerkungen zu Shakspear fortfahren, doch erst dies Blatt zu Ende schreiben. Jean Paul ist auch hier, wie schon oft, zu der schmerzlichen Erkenntnis gekommen, daß viele, die sich vorig Jahr so hart an ihn drängten, ihn nun, da sie ihre Lust an ihm gebüßt haben, durchaus vernachläßigen. O über die Thoren, die zufrieden sind, mit dem berühmten Mann einmal treulich gekost zu haben, und die es nicht einmal ahnen wie der Mensch in ihm so viel erhabener ist. Mein Band mit Jean Paul wird dadurch nur um so inniger, da ich Maulfreunden gegenüberstehe. — Ich kam gestern an die göttliche Stelle über die Musik im Kaufm. von Venedig. Ich habe mir schon die platonischen Stellen über die Musik des Sturm zusammengesucht, und die köstlichen aus Pindars pyth. Hymnen. Die Anmerkung ist im Kopfe fertig, und soll sogleich niedergeschrieben werden. Steevens und andre machen hier dumm Zeug, wie so oft. Meine Vorrede und die Anmerkungen zum ersten Bande konnte ich leider Jean Paul nicht zeigen; aber ich habe vorläufig ihm den Inhalt des ersteren erzählt, und zwanzig mal mehr, als ich niedergeschrieben. Mein Berullion ist immer sehr unvollkommen, weil ich gewohnt bin, alles was ich aus dem Stegreif niederschreiben kann, im Berullion bloß zu [...] anzudeuten. – Ja, liebster Abeken, wenn wir zusammenarbeiten könnten! – Nathan Drake für deutsche Leser zu bearbeiten, wäre |4 ein verdienstliches Werk Unternehmen . Doch wünschte ich, Du kenntest nicht das Werk, ehe Du Dich entschlössest; und dies hat mich bestäti bestärkt, eine Recension zu schreiben, die ich recht so darnach einrichten will, um Dir einen anschaulichen Begrif zu machen, was für einen Brief – zumal im so flüchtigen Augenblick – zu weitläuftig wäre. Kein einziger Artikel dürfte unverändert bleiben; und zumal die lezten Kapittel, welche Kritiken der einzelnen Stücke enthalten, die müsstest Du ganz von Neuem arbeiten schreiben . – Ein Exemplar würde Dir Brockhaus verschaffen. Willst Du mit der Arbeit warten, bis meine Anmerkungen fertig sind, d. h. von nun an noch etwa zwei Jahre, so hättest Du einen doppelten Vortheil. Erstlich stünde Dir dann mein Exemplar zu Befehl, und zweitens könntest Du meine unendlichen Berichtigungen und Ausfüllungen des Nath. Drake wieder berichtigen u. ausfüllen. Unterdeß wollt' ich Dir rathen, die sämtlichen Charakteristiken der Stücke zu schreiben, die Dir wohl zwei Jahre nehmen werden. – Daß Du über Anm. zum Shakspear mit mir gleich denkst, freut mich. Ob ich Deinen Wünschen entsprach, erwarte ich mit einiger Ängstlichkeit, eben weil Du ein eben so verzweifelter Kenner des Shakspear bist, als ich selbst. Mein Vater fragte mich neulich, ob ich mir auch zutraute, eben so fortfahren zu können, wie ich begonnen. Er schien zu fürchten, ich hätte mich erschöpft. Aber wundern soll er sich. Ich habe in der That, den Stof zu den Anmerkungen aller Stücke schon fertig liegen, u. erst, als ich den hatte, ging ich an die Ausarbeitung der Anmerkungen zu den vier ersten Stücken. – Ja wohl hast Du Recht: über alle Maßen fleißig war ich. Selbst des Nachts hatt' ich nicht Ruhe. Aber so mußte es auch sein, wenn ich die Tausende von Combinationen machen wollte, die Du finden wirst. – Jean Paul macht sich manchmal den Spaß, mich im Shakspear scharf zu examinieren; jedesmal besteh' ich. Da ist auch kein Ring, kein Schemel, kein Ziehbrunnen, kein Gleichnis, kurz was Du willst, wovon ich nicht augenblicklich und zu jeder Zeit Rechenschaft zu geben weiß. Und da kann ich Dir dann nicht sagen, wie mager mir oft Nath. Drake erscheint. Mir geht es wie Sancho mit den Sprichwörtern, bei dem geringsten Anlaß ström ich über von Shakspear-Parallelstellen. – Auf die Aufsäze freue ich mich. Brockhaus schickt sie mir, u. ich schreibe Dir umständlich darüber. – Nun gehts bis zwölf Uhr an den Shakspear. Dann essen wir mit J. Paul bei Tiedemann.

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fortgesetzt am selbigen
Morgen Vormittags.

Da kam mein köstlicher Jean P. meiner Arbeit in die Quer. "Wir sind nur so wenig Stunden mehr zusammen, lieber Alter, laß dich unterbrechen". Und so sind denn wieder ein paar liebliche Stunden vergangen. O wie sehne ich mich, den Herrlichen nun einmal wieder in Baireut aufzusuchen. Ich soll dort auf Händen getragen werden, sagt mir J. P., und ich soll – das sezt meine ganze Seele in Bewegung,, den herlichen Mann in seiner häuslichen Umgebung sehn. Abeken, kenntest Du ihn nur recht ordentlich: er gehört zu den Seltensten, zu den Einzigsten! Lieb ist mirs, daß [...] Du ihn wenigsten gesehen, wenigstens gesprochen hast, wiewohl das alles wenig sagen will neben dem eigentlichen Kennen. Solche Unschuld bei solchem Geist, bei solchem Verstande, bei so viel Welterfahrung! – Ich nehme Deinen Brief zur Hand. Ja wohl, wenn wir auch einmal ein wenig stumm gegen einander waren, daran hatte das Herz keinen Antheil, das lag bloß an äußeren Verhältnissen u. Störungen. Wir sind uns nun 18 Jahre die selbigen, und bleiben es, so lange ein Lebenshauch in uns wohnt. Mir hat das Schicksal seit 10 Jahren drei neue herliche Freunde geschenkt, Truchseß, Dörnberg u. Jean Paul, u. außerdem manchen Bekannten, aber das thut meinen alten Freunden keinen Eintrag; und ich wäre ja auch der neuen Freunde nicht würdig, könnte ich einen alten darüber vergessen. – Ich wollte, Du wärest weniger mit Schulstunden überhäuft, damit Du mehr Zeit hättest für eigene Arbeiten. Das ist es doch bloß, was Dich manchmal schwerer Arbeiten macht, wenn Du nehmlich erschöpft bist von des Tages Last u. Arbeit. – So viel ich von Schlegels Aufsaz über Rom. u Julia im Sinn habe, glaub' ich, Du hast sehr recht in Deinem Urtheil. Ich las ihn auch vor ungefähr 14 Jahren, und dann nie wieder. Ich konnte ihn nicht einmal bekommen zum Behuf meiner Anmerkungen zu Rom. Jul. Daß zwei Individuen oft in ihrem Urtheil über Shaks. zusammentreffen müssen, liegt in der Natur der Sache; jedes aber wird in sich originell sein. Schlegel ist jezt hier, u. namentlich wir beide leben in bona caritate. Er ist grundgescheut, gelehrt, adelich, weltgewandt, mehr Kosmopolit als Deutscher, wiewohl auch deutschgesinnt, wie seine Ausgabe des Niebelungenliedes zeigen wird, u. dabei brav u. ehrlich. Aber Gott weiß, er spricht mich nicht an. Jean Paul, der mit ihm Wandnachbar ist, geht es eben so.

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Heidelb. d. 30 Jun

Sieh, wie sonderbar und wie schön! Kaum hatte ich die erste Seite zu Ende geschrieben, da erhalte ich einen Brief von meinem theuern Dörnberg. Ist das Zufall, oder ist es Sympathie, daß er gerade zu der Zeit so an mich denken mußte, da ich so oft über ihn mit Jean Paul sprach? O Du lieber Abeken, wenn Du doch diesen Herzensmann kenntest, d. h. persönlich, denn davon abgesehn kennst Du ihn so gut, wie unser Kohlrausch, der ein so herliches Wort über ihn gesprochen hat; wenn Du doch den Morgen bei mir gewesen wärst, als ich Thorbecke geladen hatte, und der nicht kam; wenn Du ihm da in sein fürstliches Antliz, in seine köstlichen Augen hättest schaun können! Ich gebe meinem Abraham recht, wenn er ihn den Mann aller Männer" nennt, nur mit der Einschränkung, daß es mehr Mann aller Männer, so wie auch Frau aller Frauen giebt. – Ich will fortfahren Deinen Brief zu lesen und zu beantworten. – Noch einmal, halte ja den Gedanken fest, auf dem Grunde von Nath. Drake ein eigenes Werk über Shakspear zu bauen. Du bist durchaus der Mann dazu. Auch angenommen, woran gar nicht einmal im Traum muß gedacht werden, daß ich in meinen Anmerkungen alles erschöpfte, was aus dem Shakespeare selbst für die Erklärung Shakspears kann gezogen werden, so steht doch in den Anmerkungen alles ganz fragmentarisch da. Wir müssen ein Werk haben, durch das wir ganz in Shakespears Zeit hinein schauen können. Und ich meine, dann erst verstehen wir den Dichter erst ganz , wenn wir seine Zeit verstehen. Ich sage Dir vorher, es wird ein Werk von mehrern Oktavbänden werden bis Du ein Exemplar erhältst; und das fodert Zeit u. Fleiß. Also fang nur immer mit der Charakteristik der einzelnen Stücke an, u. sammele daneben für das übrige, u. zwar so, daß Du jeden Gedanken, der Dir kommt, aufs Papier bringest, u. immer Gleiches zu Gleichem gesellst. O hätte ich das gethan, die Zeit her, daß ich Shakspear so lese, wie ganz anders wollt' ich ihn commentiren als jezt, da ich bloß aus dem Gedächtnis schreiben muß. Du kannst Dir bei der Gelegenheit auch einen herlichen Namen verschaffen; denn so ein Werk muß mit Shakspears Namen fortdauern. Abeken, wären wir beisammen, wir wollten lebhafter darüber sprechen, als in den kalten Worten auf dem Paier; wechselseitig begeistern wollten |7 wir uns. In diesen Charakteristiken kannst Du auch ganz herlich Übersezungen der Shakspearschen Lieder anbringen. Die Änderung im Liedpflüger aus Cymbeline ist sehr brav. "Bist gelohnt u. heimgegangen" taugte gar nichts: es war ein fatales hysteron proteron. "Gingest heim und nahmst den Lohn" ist vortreflich. Über die andere Übersezung aus loves lab. l. ließe sich manches sagen. Sie ist nicht treu genug, zumal am Schlusse der Winterstrophe; auch sind die Reime nicht die besten, u. gegen die Begrifstellung ist hie u. da gefehlt. Was Du in Deiner Übersezung vorziehest, darin hast Du recht, streng genommen, aber schlecht ist meines auch nicht. Wende ja allen Fleiß, die Übersezung vollkommen zu machen. Ich schlage Dir folgende Reime vor.


Erste Strophe: Osterblum' in weißer Pracht Tracht,
Schmücket Feld u. Wies' in bunter Pracht
Zweite Strophe: Die Lerche steigt, des Pflügers Uhr –
– – – – blauht auf grüner Flur
Dritte Strophe:
u. Klaus die Hand sich wärmt am Kopf (taugt [...].)
u. starr die Milch heimkommt im Topf.
Wenn starr wird selbst das Bier im Faß
Dann singt die Nachteul' hell und graß
Vierte Strophe: Wenn laut der Wind am Fenster weht –
– – –
der Husten würgt des Pfarrers Red'
– –
Der Bratholzapfel zischt im Glas – –

Deins: Der Apfel Lärm im Kessel macht ist ganz verkehrt, wie ich Dirs historisch beweisen kann.

Ob ich recht gethan habe, alle diese Reime zu verwerfen, weiß ich nicht. Du siehest wenigstens, ich gab mir alle Mühe, das einig Rechte zu finden; aber wer ist vor Irthümern sicher? Nur um eins bitt' ich, bringe ja das Würzbier zum Schlusse hinein, u. wo möglich in einem vollkommnen Reim, den ich vergeblich suchte, u lasse Schuhu Kliwitt weg – wogegen ich einen wahren Widerwillen habe. Welche Freude wirst Du erst haben, wenn Du aus Nathan Drake die eigentliche Bedeutung des Würzbiers recht kennen lernen wirst, z. B. am Neujahrs Morgen. O welchen köstlichen Ersten hatten damals die Engländer! Das ganze Volk war poetisch gestimmt. Denke nur der |8 köstlichen Maifeier, die im Somernachtstraum vorkommt, an den schönen, bedeutungsvollen Maibaum u. s. w. Wahrlich, wenn man erst einen Blick in Shakspears Zeit gethan hat, dann erhält fast jede Zeile Shakspears eine neue Bedeutung. Ich versichre Dir, wie ein geistvoller Kenner des Shakspear Du auch jezt schon bist, noch ein ganz andres Licht wird Dir aufgehen, wenn Du mit Rücksicht auf seine Zeit jede Metapher, jede Anspielung betrachtest. Hast Du z. B. wohl je über die Ingwerstellen nachgedacht? Wenn z. B. in Maß für Maß u im Kaufm. v. Venedig die alten Jungfern Ingwer knuppern, u. der köstliche Rüpel im Wintermährchen Ingwer kauft od. Heinrich IV. Th. 1 Act. II Sc. 1. Alles, alles muß im Shakspear erwogen werden, sogar die Nachttöpfe, behaupte ich. Und meinst Du nicht, daß aus den Puterstellen was zu schließen ist? wenn z. B. Shaksp. den Wolsey u den Malvolio beide mit Putern vergleicht. Denke Dir mal recht ordentlich dies Thier voll Zorn Eigenliebe und Romantik mit dem köstlichen Diamanten – u [...], dem Lappen über der Nase, und der Pferdemähne auf der Brust. Die Puter sind unter Heinrich d. VIII nach England gekommen. – Wisse erst aus Nathan Drake was das Angeln, u. die Falkenjagd für Bedeutung gehabt haben dazumal, mit ganz andern Augen wirst Du mehr als fünfzig Stellen ansehen. Und meinst Du, daß Du Maß für Maß ordentlich verstehst, wenn Du die Kleidung des Clown nicht ganz u genau kennst? Ich muß Dir eine Anmerkung hersezen, über die Jean Paul so außerordentlich lachte. Sie gehört zu Maß für Maß Leipz. Ausg. p. 109.

"Pompei Pumphose.] Oben (I, 2) nannte Frau Abgemacht ihn Thomas. Dies war wohl sein Name fürs Haus, sein Staats- u. Sonntagsname war Pompei.

Pompei ward er von Göttern genannt, von den Sterblichen Thomas."

Die Pumphosen (im Engl. Bum, i. e. great bum of Paris, cul de Paris) wurde im Anfang der Herschaft Elisabeths so furchtbar ausgestopft, daß eine Parlamentsacte gegen sie erwirkt werden mußte. Einst brachte man einen Übertreter dieses Hosengesetzes vor Gericht; der zog aus der Hose heraus, erstlich ein halb Dutzend Betttücher, dann vier Tischtücher, zwanzig Schnupftücher, einzelne Hemden, sechs Bürsten, einen Spiegel, einen Kamm, mehrere Nachtmüzen u. s. w." Denk Dir das einmal |9 recht anschaulich, u. frage Dich, ob Du nun nicht ganz andere Gefühle bekommst bei den buttock- u bum-Stellen im Timon von Athen und Endegut alles gut. – Höre, der Rüpel in Maß für Maß ist ein grenzenlos köstlicher Kerl, besonders da, wo er mit dem Scharfrichter Grauserich in Collision kommt u. in seinem lezten Selbstgespräche. Noch vor einigen Abenden hab' ich ihn meinem Jean Paul so recht gründlich entwickelt, ungefähr wie vor einem Jahr Göthen die Filisterei aller xxx in den lustigen Weibern. – Laß mich nur aufhören, denn sonst gehts in die Ewigkeit hinein.

Mit Deinen Shakspearerklärungen bin ich zufrieden. Hab Dank dafür, besonders das betreffende aus Heinr. IV. Schön ist es, daß Shakspear die That nicht billiget, sondern bloß erzählt. "Erzähle Du, u laß mich richten" sagt Göz von Berlichingen zu Georg in der neuen Bearbeitung. Und ist diese Unparteilichkeit nicht köstlich? Jedesmal ein Verdammungsurtheil hinzufügen, wo die That selbst verdammlich ist, sezte unmoralische Leser u Hörer voraus, u. an solche dachte Shakspear nicht, dieser Tugendhafte im erhabensten Sinn des Worts.

Ich bitte Dich um alles, schicke bald die Rezension von Schubarth u. Grillparzers Sappho u die Ahnfrau; u. die lezte nur recht gepfeffert. Calderon erhältst Du nächstens. Mach Dir keine Sorgen. Nur zwei Druckbogen voll schreibe noch, u. zwar bis Weihnachten, so ist alles gelöst, d. h. zweimal so viel als die Recension von Sigurd. Mit dem Calderon kann ichs gar nicht mehr rückgängig machen, da er wahrscheinlich schon unterwegs ist. Dr. Weber, der neulich bei mir war, wird ihn von Cöln aus mit guter Gelegenheit an Dich abgehen lassen. Sollte Dich der Termin bis Weihnachten in Verlegenheit sezen wegen andrer übernommnen Arbeiten, so verlaß Dich auf Deinen alten Voß – dann schreibe ich auf Deine Rechnung eine große Recension, u. von der Lumperei soll die Rede nicht mehr unter uns sein. Ich bin ordentlich glücklich in dem Gedanken, daß Du einen Calderon besizen sollst.

Herlicher alter Göthe! Ach, er war neulich schon sehr krank. In diesen Tagen schreibe ich ihm. Er ließ mir vor drei Tagen brieflich sagen, ich sollte ihm bald wieder "so eine köstliche Zwergfellerschütterung geben, wie mit den lustigen Weibern". – Diese Übersezung hat mir sein ganzes Herz von neuem geschenkt, das ich einmal verloren glaubte.

Mit Calderon gehts mir eigen, wenn ich vom Shakspeare an ihn komme. Es ist doch viel Unnatur darin, und über ihn hätte Göthe gewiß nicht ausgesprochen, was über Shakspear: "Nicht geahnt hätt' ichs, daß ein Mensch so viel Geist haben könnte, wenn ichs nicht erlebt hätte". Misverstehe mich nicht, ich gehöre wahrlich zu den gründlichen Verehrern Calderons, aus einem Shakspear folgt er nicht. Bei Calderon kann ich dem Glauben an die Menschheit nicht entsagen, Shakspear aber dünkt mir ein Gott. Knien wollt ich auf Shakspears heiligem Grabe, wenn ich einmal in Stratford wäre. Ich meine bei der Geburt dieses Mannes muß das Universum vor Wonne gesummt haben. Denk Dir, die Pest wütete zweimal in Stratford, wie Shakspear ½ Jahr u 2 Jahr alt war. Er lag ruhig in seiner Wiege, wie alles um ihn her starb, wie ein Liebling aller Götter u Göttinnen. Glaubst Du wohl, daß solche ein Genius je wieder geboren wird? Wie mag dem zu Mute gewesen sein, als er seinen Hamlet (ja wohl, das schwerste seiner Stücke) vollendet hatte, und nun sahe, "er war sehr gut!" – Ist nicht schon das ein Beweis für von Shakspears unendliche Größe, daß man ihn immerfort lesen kann, ohne ihn satt zu werden? Unter Shakespears Zeitgenossen waren mehrere, die ihn verstanden; späterhin nur Einer, der herliche der herliche Stolberg. – Siehst Du ihn / , so zeig ihm [...] Wort, und er versteht mich.

Nur nicht heut den Chor aus der Antigone. Es ist der lezte Tag mit jean Paul, u. bloß weil er ausgegangen ist, ein par Abschiedsbesuche zu machen, konnte ich Dir überhaupt schreiben. Auf seinem Zimmer schreibe ich, mit seiner Feder, auf seinem Sopha sizend. Du siehst, liebster Abeken, ich bin nicht traurig über die Trennung von meinem Freund. Wir bleiben uns ja nahe, u kommt der Frühling, u wir bleiben am Leben, so schwelg ich nächsten Frühling an seinem Herzen, wo es am liebendsten schlägt, bei seiner Frau u seinen Kindern. Heute Abend pack' ich ihm den Koffer, u Morgen früh begleit' ich ihn noch drei Stunden weit.

Ja wohl, ich komme nach Osnabrück; Dich muß ich wieder sehen; dann sollm Shakspear unser Mittags u Abendgespräch sein.

aber Schokolade müssen wir einmal trinken, auf einmal, oder noch besser zweimal, bei [...] u. eine Gans [...] verzehren. Das dies lezte [...]
Grüße u küße die liebe herliche Frau u die süßen Kinder in meinem Namen. Grüße Iden u seine Frau, die besser ist als ihr fataler Bruder in Gotha, ich meine den ältesten. Lebe wohl, Du Theurer. – Am heutigen Tage wirst Du ja keinen bessern Brief erwartet haben. — Jean Paul, der wieder da ist u. meinen Brief gelesen hat, wie liederlich er auch ist, grüßet Dich. Dein alter u recht treuerHeinrich Voß

Zitierhinweis

Von Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken. Heidelberg, 29. und 30. Juni 1818, Montag und Dienstag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1699


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Textgrundlage

H: SLUB, Briefe Voß an Abeken , Mscr.Dresd.e.97,II,Nr.85
10 S. 4°, in Buch eingebunden.

Überlieferung

D: Persönlichkeit, S. 219-220, Nr. 247 (Auszüge).