Von Karl August von Wangenheim an Emanuel. Chamonix und Leukerbad, 11. und 14.Juli 1808, Montag und Donnerstag

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Prieuré de Chamouni den 10 11 Jul. 8.

Als ich heute vor 8 Tagen zum erstenmale in Thieriots Zimmer ausgeschlafen hatte, da nahm ich mir vor, in der ersten freien Stunde Ihnen, lieber Emanuel! ein Paar Zeilen zuzusenden, die Ihnen rechte Freude machen sollten. Mit jedem Morgen mehr, den ich in Yverdun begrüßte, wurde mir mein Vorsatz lieber: denn ich hatte Ihnen nur Gutes zu schreiben. Und dennoch komme ich erst heute dazu. Aber es soll heute seyn, ob ich gleich seit Donnerstag Abend, wo ich von Yverdun zu Fuße abgereist, bis heute (am Montag) täglich 8 bis 10 Stunden gegangen und größtentheils geklettert bin.

Nun sitze ich hier – vor mir 2 Alpenröschen im Waßerglaße neben einer halbgeleerten Weinflasche, rechts den Montblanc, der mir, wie rechte Menschen, den Verstehenden gegenüber, nur sein Höchstes giebt, links den Montanvert , den ich so eben verlaßen – und habe doch nichts zu sagen, als das Schönste: ich glaube Thieriot, unsern Thieriot auf dem Wege der Heilung. Endlich wird er sich verstehen lernen, und sich an seine ausgebildete Kraft anlehnen, wenn ihm schwindelt oder er.

|2 Alle Menschen dort haben ihn lieb gewonnen, ob er gleich als ein Halbverrükter – bei Fellenberg gar als ein ganzer – aufgetreten ist. In Yverdun haben 2 gute Menschen (Pestalozzi u Niederer) und ein großer (Schmid, ein Tiroler Hirtenjunge seit 7 Jahren Pestalozzi's Schüler, jezt ein Meister) ihn ergründet und verstanden. Während jene ihn nur lieben, bewundern u bedauern, hat ihm dieser imponirt und er legt es ganz u mit Bruderliebe darauf an, ihn sich selber und ganz wieder zu geben. Ein schöner Anfang ist gemacht. Er fängt an, an etwas bestimmten, lebendigen mit Liebe zu arbeiten; er schließt sich an Menschen an, die er für rechte Menschen hält; er vertraut, wie ein Mann soll; und – er hat Worte [...] wieder gefunden und Spaß u gutmüthigen Witz und viel andres. Ich habe ihn mit Thränen der Besorgniß beim Kommen, ich habe ihn mit Thränen der Freude beim Scheiden wehmüthig froh umarmt. Gott erhalte ihn auf diesem Wege. |3 Ich verließ ihn beim ernstlichen Studium einer Formen- u Größenlehre , die Schmid geschaffen.

Leuker-Bad den 14

So weit war ich in Chamouni gekommen mit meinem Briefe an Sie. Da aber keine schikliche Gelegenheit zur Uebersendung da war, so trug ihn wieder mit fort. Jezt liegt das herrliche Thal mit seinen Feldern u Wiesen, seinen Gletschern und dem Eis-Meere (das ergreifendste von Allem, was ich hier sah) hinter mir, und ich bin nach 2 äußerst mühseeligen Tagereisen hier im Heilbade, wo alles schlecht ist außer das Waßer. Von hier aus habe ich Gelegenheit gefunden, dieses Blatt auf eine Post zu bringen.Richter – der biedere und treffliche, der warme und kluge Friedensprediger, deßen Predigt ich nach Yverdun getragen, – wird 2 Zeilen von mir von der Gießlyfluh erhalten haben. Ihm u Ihnen habe ich aber noch auf liebe Briefe zu antworten. Gott mit Ihnen.

KarlW.

Zitierhinweis

Von Karl August von Wangenheim an Emanuel. Chamonix und Leukerbad, 11. und 14.Juli 1808, Montag und Donnerstag. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1813


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Textgrundlage

H: DLA, B:Wangenheim, Karl August von
1 Dbl. 8°, 3 S.


Korrespondenz

A: Von Emanuel an Karl August von Wangenheim. Bayreuth, 17. August 1808