Von Karl August von Wangenheim an Emanuel. Stuttgart, 22. Oktober 1808, Sonnabend
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Sie haben Unrecht, lieber Emanuel, mir für etwas zu danken, was mir selber die größte Freude macht – für mein Denken an Sie, meine Unterhaltung mit Ihnen. Und doch freut mich Ihr Dank, weil er Freude an meiner voraussezt. Laßen Sie uns immer so stehen, wo wir auch seyn mögen.
Ich habe meine Reise so zufrieden beendigt, als begonnen. Es war ein heißer Tag, als ich das wundervolle Thal und die es umgebende Berg-Riesen und die Quellen-Höhle und das Eißmeer verließ, wo dem Menschen so stolz und so demüthig ums Herz wird. Aber die schattenreichen Wälder, welche tête noir bedecken, haben mir die Sonnenhitze mehr angenehm, als lästig gemacht. Es ist unmöglich sich auf einem Wege von 6–7 Stunden (nämlich von Priearé de Chamouny bis Trient) eine größere und schönere Mannichfaltigkeit in reizend einfachen, ruhig erhabenen und wild romantischen Natur-Sennen zu denken. Von Martigny bin ich mit verbundener Nase u Augen, die nur für die vegetabilische nicht für die kropf u kretin-reiche menschliche Natur offen seyn konnten, durch Wallis eilenden Fußes gezogen ins Leuker Heilbad – klaßischer Boden, wo der Walliser, die Stärke des überlegenen Feindes nicht achtend, kühn für Freiheit gestritten und, endlich unterliegend, noch Bedingungen vorschrieb. Ueber die herrliche Gemmi mit ihrem Tauben-See auf dem Schnee-umkränzten Gipfel stieg ich hinüber ins freundlichere Berner-Land voll schöner deutscher Frauen u Männer und ruhte aus am lieblichen Thuner See von den welschen Flammen. Ein ungegründetes Gerücht, als stände ganz Württemberg in Kriegs- u Aufruhrs-Wogen jagte mich wider Willen zum 2ten male nach Bern und hinderte mich meinen Weg durchs Lauterbrunner Thal über die kleine und große Scheidek nach Luzern zu nehmen. Die herrlichen Gegenden u Menschen im Immenthale und Entlibuch voll alter Sitte entschädigten mich, denk' ich, hinlänglich. In Luzern hab' ich mir die Tagsatzung besehen und mich gestärkt in der Erinnerung an die Männer, die auf dem Rütli schwuren und in den Hohlwegen gen Kußnach pp handelten.
|2 Lauwerz und die Ruinen von Goldau vorbei habe ich mich über Erdenjammer erhoben auf Rigi, mit Recht der königliche genannt. Da muß beten und seelig seyn, dem das Herz nicht gestorben in der engen Brust. Ein kleiner Sturm auf dem Zuger See kühlte mir die Glut des Rigi und lange, ungestörte, seit Wochen nicht so genoßene Nacht-Ruhe gab mir den Ton wieder, das Treiben der fleißigen Bienen-Menschen am reizenden, wohl bebauten Zürcher See schön zu finden – nach Homers Ilias die Louise von Voß. Huttens Grab ward besucht u Deutschland beklagt, das solche Edle nicht mehr handelnd aufzuweisen hat. Mit dem intereßanten Oekonomen Lasteyrie u seiner liebenswürdigen Frau, die mir vielleicht intereßanter wurde, weil sie eine verehrte Freundin in Paris kannte, gieng ich von Zürch aus nach Winterthur, der Wiege mehrer nicht unbedeutender Maler. Meine Reisegefährten giengen von hier aus nach Schafhausen zu dem von mir schon angestaunten Bild der französischen Revolution (vielleicht aller Revolutionen) ich aber an den friedlichen Meilen-Spiegel des herrlichen Bodensees. Noch einen langen, sehnsuchtsvollen Blick warf ich von Hohentwyl aus auf die Eißberge der Schweitz und ihre prangenden Matten ehe ich mich – von einer nunmehr Tag und Nacht forteilenden Postcalesche wohl durchrüttelt – in den Rebhügeln Stuttgarts begrub. Da besuchen mich denn zuweilen der rechnende Fellenberg, der träumende Thieriot und der klare, handelnde Pestalozzi und führen mir im schönen Ramen der Alpen u Gletscher und Matten die Bilder einer für die Zukunft stärkenden Vergangenheit vor; und was ich aus Yverdon mitgenommen und hier verarbeite ist das Sarepta-Krüglein aus dem ich Oel nehme für das Docht meiner Lebens-Lampe, die so Gott will einst leuchten soll, ohne ein Auge zu blenden. Noch ist's hier nicht an der Zeit; aber die Fäden werden an so festen Punkten und so sorgsam von den Gesellen angeknüpft |3 daß das Gewebe trefflich gelingen muß, so bald ein anderer Meister zum Stuhle tritt. Meine Hoffnung auf ihn und meine Forderungen an ihn sind groß.
Im Merz oder Aprill, vielleicht auch früher, eröffne ich mit Hülfe einer Jungfrau Hartmann, die mir Pestal. seit 3 Jahren zugebildet, eine Töchter-Schule. Der Anfang ist klein; der Wille stark; das Ziel erhaben. Volk u Regent müßen lieben die Idee einer National-Erziehung u zur Ausführung derselben getrieben werden durch die nachgewiesene Möglichkeit.
So viel, Lieber! auf Ihre Frage: wie ich meine Reise geendigt? und ich füge nur noch hinzu, daß ich gesund bin.
Sie wollen für Ihre beste Freundin wißen, wie es mit der Ordnung, der Reinlichkeit und überhaupt mit dem äußern Menschen in der Yverdoner Anstalt aussieht?
Der Tag ist von 6 Uhr Morgens bis zum Schlafengehen eingetheilt und diese Eintheilung wird streng beobachtet. Der Anzug wird täglich (wie der der Soldaten bei einer Musterung) bis ins kleinste Detail visitirt und die Mängel werden nicht allein gerügt, sondern auch auf der Stelle verbeßert. Unter der Aufsicht eines Lehrers waschen sich die Kinder Gesicht, Kopf, Hals u Genik am Brunnen. Jedes hat sein eigenes, mit der treffenden Nummer versehnes, Handtuch zum Abtrocknen. In einem eigenen Schulmagazin werden die schmuzigen des vorigen Tages gegen die inzwischen gereinigten des ehevorigen umgetauscht. Alle Tage werden die Kinder von Weibspersonen gekämmt. In den Schlafstuben herrscht die größte Reinlichkeit und große Aufmerksamkeit. In den Spielstunden sind die Jungen wild ohne unbändig zu seyn. In den Stunden herrscht so viel Freiheit u Bewegung als nur immer mit der eigenen u fremden Aufmerksamkeit vereinbarlich ist. Diese Partie und die Aermlichkeit des Tischgeräths wird dem Fremden am unangenehmsten auffallen. |4 Gegen jene Ungebundenheit in den Lekzionen läßt sich nichts einwenden, da die Erfahrung die Richtigkeit des Pest. Grundsatzes bewährt: daß in dieser Freiheit das Entwickeln u Lernen beßer gedeiht, als in einer Schulstube, wo die Aufmerksamkeit nicht durch Selbstthätigkeit der Schüler sondern durch die Strenge der Lehrer erhalten wird, eine Aufmerksamkeit, die dann nur scheinbar, eigentlich aber ein bloßes Hinbrüten ist. – Diese Aermlichkeit in den Speisegeräthschaften hingegen ist bloße Folge von Pestalozzi's Armuth, vielleicht auch Folge eines zu spartanischen Sinnes. Dieser Aermlichkeit wird jezt durch ein Steingutservice abgeholfen, daß ihm einige seiner Verehrer schenken werden, ohne daß er weiß, woher es kommt. In Chamouny ist uns die Idee gekommen und Menschen die sich vorher u zum Theil nie sahen in Bremen, Frankfurth u hier haben sie realisirt. Die Speisen sind einfach, hinlänglich u reinlich gekocht.Je beschränkter die blos thierischen Bedürfniße des Menschen, desto freier ist er selber. Das erkenne ich mit Pestalozzi an. Aber die Lust am klaren Waßer im zierlich geschnizten Becher erhebt den Menschen u treibt ihn zur Thätigkeit. Der ästhetische Sinn schafft gesittete und erhält sittliche Menschen und erweitert den Kreiß ihres Einwirkens auf Andere zum Besten des Ganzen.
Uebrigens bildet sich der äußere Mensch in Yverdon nicht allein von Innen heraus durch ein reinliches Gemüth, sondern auch positiv durch Uebungen des Körpers, elementarisch getrieben. Und die Kinder sind alle seelig u seelenvergnügt und also gesund und also reinlich.
Eltern, die einen bedeutend größern Aufwand nicht zu scheuen haben, werden unläugbar ihre Kinder äußerlich beßer versorgt wißen können, wenn sie sie |5 in das v. Türk'sche Institut geben, welches neben und mit dem Pestalozzi'schen in enger Verbindung steht. Indeßen ist es das nicht, warum ich meine Kinder dorthin thun würde, (wenn ich sie überhaupt dorthin u nicht zu Pest. thäte ) sondern einzig deswegen, weil sie im Hause von Türk eine schöne, reine, deutsche Aussprache bekommen, in dem von Pest. aber den im Munde eines Knaben abscheulichen Schweitzer Dialect annehmen würden.
Ich schicke Ihnen eine Ankündigung von Türk in dieser Beziehung u mein Lekzions Schematism, den mir Thieriot geschickt und den ich nothwendig u bald von Ihnen zurük erhalten muß. Unter gleicher Bedingung schicke ich Ihnen Blätter von unserm Thieriot, der mir nicht schreibt, ob er seinen trefflichen Bruder gesprochen oder nicht.
Der Kampf um die eigene Sache, die Sie daraus entnehmen, muß schwer auf Pest. gelegen haben, denn sein lezter Brief an mich, vor jenem geschrieben, war krankhaft u fast kleinmüthig.
Ueber Fellenberg schicke ich Ihnen ein Büchlein (von Escher v. Berg) das beßer über seine Sache spricht, als er selbst. Fellenberg mag ein guter Landwirh seyn, ich glaub es gewiß, aber seine Grundidee ist falsch. Er will die Menschenbildung auf die Berufsbildung basiren d. h. den Himmel aus der Erde graben. Unselige Verblendung! Haben Sie Escher gelesen, so schicken Sie ihn unfrankirt an Herrn geh. Regierungsrath von Bibra in Irmelshausen bei Römhild im Hennebergischen. (wird wahrscheinlich erst später folgen, weil ich so eben Zusätze und Berichtigungen bekomme, die ich erst lesen muß.) —
Daß Zehelein keine Antwort bekommen wundert mich mehr, als wenn er eine abschlägliche erhalten; denn nicht allein war der Mann krank an den er schreibt sondern er macht auch krank sein ganzes, ihn umgebendes und ihm untergebenes, Wesen.Nur unermüdetes u derbes Zudringen u Drohen mit |6 Publicität kann da helfen. Ob dieß für Zehenleins Verhältniß thunlich, kann ich nicht beurtheilen. Daß solche Briefe nicht durch mich gehen können, versteht sich von selbst.
Danken Sie Richter für sein Denken an mich. – Sagen Sie ihm und ihr, daß ich sehr befürchtet, meine Frau zu verlieren, daß sie aber (im Wildbad) genesen, daß uns 2 Mädchen und 2 Jungen die Köpfe warm lärmen, daß sie also gesund sind und daß wir Theilnehmen auch an an Ihren Eltern-Freuden.Woran arbeitet denn Richter so fleißig? – Cotta warf mir, als ich ihn auf meiner Reise nach der Schweiz in Tübingen besuchte und wir über Richter sprachen und warm wurden, die Worte hin: "Wollte sich Richter unter gewißen Bedingungen hier oder in Stuttgart etabliren, ich würde ihm gern jährlich 200 Carolin bezahlen" Ich habe die Worte lang mit mir herum getragen, nicht einig darüber: ob ich sie weiter geben sollte oder nicht? Nehmen Sie sie auf, lieber Emanuel! u halten Sie es für zuträglich, so sprechen Sie mit Richter und schreiben Sie, Sich auf mich beziehend, an Cotta und geben mir Duplicate, si maris.Je prens la chose à coeur u Thieriot, der darum weiß, auch; aber wir wißen nichts damit zu machen und mit unsern Gefühlen dabei auch nicht.
In einem Ihrer vorigen Briefe frugen Sie mich: ob hier (wo man doch eben so gut, wie fast überall, Geld brauchen würde) nichts für Sie zu machen sey mit Zerschlagen? Damals hätte ich mit Nein darauf zu antworten gehabt und ob das, was ich Ihnen heute darüber mittheile ein Ja ist, weiß ich selber kaum.
|7| Sehen Sie folgende Notizen und Vertrauliche Mittheilungen als einen Versuch an, Ihrer Frage u meinen Wünschen zu genügen.
No: 1) Wird nächstens im hiesigen Lande ein Gut, an der Schweizer Grenze zum Absatz seiner Producte herrlich gelegen, sub hasta verkauft werden und wahrscheinlich unter dem Werth weggehen, weil es nur ein Landwirth u ein Kapitalist kaufen können. Seit 10 oder gar 20 Jahren steht es in eigener Administration von Schluckern, die in jeder Rüksicht arm zu nennen sind. Denken Sie sich alle Arbeit wird von den Lehnsleuten verrichtet und der ganze Viehstand bestand u besteht aus – einer Ziege. Der Dünger wurde gekauft. Die Meierei ist zu einer Schäferei herrlich zu benutzen und (was mir wichtig scheint) der neue PatrimonialAmtmann des verganteten Herrn ist ein erprobt guter Landwirth u daher als Verwalter zu gebrauchen. Mit 80/m f, sagt er, wird sich Niemand verkaufen u sich in 3 Jahren eine Revenue von 5 bis 6000 f rein machen können. Dann wird es auch erst Zeit seyn, ans Wiederverkaufen oder Zerschlagen zu denken. Jezt sind die umliegenden Dorfer arm u die Bewoh l ner katholisch u faul. Der beiliegende Anschlag ist schlecht. Allein er bietet Stoff zu Fragen und Forderungen. Zum Besorgen erbiete ich mich, wenn Sie die Desideria auf eigne Blätter setzen und will sogar Käufer scheinen, weil mich der Amtmann obligiren will. Das kann ich nicht bei
No: 2) wo das zu verkaufende Object königlich ist. Der Bericht, den ich Ihnen mittheile u der alles von mir Bestimmbare enthält, liegt noch ohne Resolution vor dem Könige. Fragen werde ich beantworten laßen. Daß Sie den ganzen Bericht haben, ist zu ignoriren. |8 Der Kaufliebhaber, der die Sache in Anregung gebracht ist noch nicht erschienen. Die Commißarien u Beamten scheinen Lust zu haben als Actionairs zu gewinnen. Mit baarem Geld in der Hand ließ sich jezt gut handeln; denn deficiente pecu-deficit omne-nia und wirklich fehlt's in allen Ecken.
No: 3) Noch mehr fehlt es aber in Baaden. Dort hat der Finanzminister (der provisorische heißt Dalberg u an ihn ist sich zu wenden) im Regierungsblatt ein häßliches Glaubensbekenntniß abgelegt. Dort will u muß man Domainen verkaufen. Ich habe keine Bekanntschaft in Carlsruhe; doch können Fragen zur Beantwortung von mir spedirt werden.
No: 4. Im hiesigen Territorio ist ein Gut (ein sehr schönes u beträchtliches) Gut, jezt wahrscheinlich auch unter sehr guten Bedingungen zu verkaufen. Es gehört dem König von Dänemark, der es gern verkaufen will, theils weil er nicht gern hiesiger Unterthan seyn will, theils weil er Geld braucht. Ein Freund von mir (v. Eelking aus Bremen) hat angeknüpft und sucht zu dieser Speculation einen Compagnon. Er thut in Gütern. Jezt ist, Gott sey Dank! hier mit unsern Domainen nichts im Großen zu machen, weil der König die glükseelige Marotte hat auf Guterbesitz zu halten. Der künftge Regent denkt anders. Er will Schulden damit bezahlen u er hat (aus 10 guten Gründen und) um deswillen recht, weil unsere sehr beträchtlichen Besitzungen in lauter kleinen Gütern bestehen, für die sich keine Pachter-Kaste bildet, wie in Sachsen. Komt jene Zeit, dann bin ich etwas in ihr und dann rufe ich Sie zu meinem ehrlichen und Allen nützlichen großen Geschäfte und Sie kommen doch?
Wangenheim
Der Brief geht mit einer sichern Gelegenheit nach Hildburghausen, von wo aus Sie ihn durch die Post erhalten werden. In der Antwort seyn Sie vorsichtig u nur mir verständlich, denn der Postmeister schleicht sich zuweilen in unser Vertrauen, sagt man. Ich weiß es nicht aus Erfahrung.
Wenn Sie Sich an beiliegenden Briefen der Fürstin von Lippe-Detmolt gelabt haben, so schicken Sie sie nach Hhausen an den Cammerherrn u Major von Schuler in Hildburgh .......
Zitierhinweis
Von Karl August von Wangenheim an Emanuel. Stuttgart, 22. Oktober 1808, Sonnabend. In: Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020–). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/umfeldbriefbrief.html?num=JP-UB1829