Zur Geschichte von Eduard Berends Briefausgabe Jean Pauls

Eduard Berends große Ausgabe Jean Pauls begann mit den Briefen: 1922 erschienen der erste und der zweite Band einer geplanten vollständigen Sammlung unter dem Titel „Die Briefe Jean Pauls. Herausgegeben und erläutert von Eduard Berend“ bei Georg Müller in München. Der erste Band umfasst die Jahre 1780 bis 1794, der zweite 1794 bis 1797. Die Bände waren fast wie die später beim Akademie Verlag herausgebrachten konzipiert und ausgestattet; sie enthielten knappe, aber sehr substantielle Anmerkungen philologischer wie sachlicher Natur sowie ein Verzeichnis der Fehlbriefe.

Im Vorwort des ersten Bandes gibt sich Berend noch optimistisch, was den Erscheinungsverlauf der Bände angeht: „Nach langjähriger, durch den Krieg empfindlich unterbrochener Vorarbeit kann ich endlich die beiden ersten Bände einer Gesamtausgabe von Jean Pauls Briefen vorlegen; die übrigen Bände sind schon so weit vorbereitet, daß sie in kurzen Abständen werden folgen können, so daß, wenn nicht unvorhergesehene Hindernisse eintreten, am hundertsten Todestages des Dichters (14. Nov. 1925) die Ausgabe abgeschlossen sein wird.“ (Die Briefe Jean Pauls. Herausgegeben und erläutert von Eduard Berend, München 1922-1926, Bd. 1, S. VII.) Wie so oft bei Editionsprojekten, entsprach der Erscheinungsverlauf in keiner Weise dem Erscheinungsplan, hier allerdings wohl nicht dem Herausgeber, sondern den außerordentlich schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg geschuldet. Erst 1924 kam der dritte Band heraus, in dessen Vorwort der vierte als abgeschlossen und für das Folgejahr angekündigt wurde (a.a.O., Bd. 3, S. V). Als dieser dann 1926 erschien, deutete Berend bereits den Unterbruch der Arbeiten an: Mit der Niederlassung Jean Pauls in Bayreuth sei „ein gewisser vorläufiger Abschluss gewonnen, insofern die noch folgende Periode, obwohl an äußeren und inneren Erlebnissen und an reifen Werken keineswegs arm, doch keine entscheidenden Wandlungen im Leben und Schaffen des Dichters mehr zeitigt.“ Doch liege das „Material für die noch fehlenden Bände […] größtenteils schon bereit“ – und Berend hoffte, „sie bald liefern zu können“ (a.a.O., Bd. 4, S. V).

Daraus wurde bekanntlich nichts; und das lag nicht an den widrigen Zeitumständen. Nachdem Berend zusammen mit Karl Freye den in der Preußischen Staatsbibliothek liegenden Nachlass gesichtet, erstmals geordnet und mittels eines (ungedruckten) Verzeichnisses erschlossen hatte, reichte er im Frühjahr 1914 zusammen mit Julius Petersen bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften ein Gesuch um Unterstützung einer Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Jean Pauls ein (bei dem er auch bereits die drei Abteilungen: veröffentlichte Werke / Nachlass / Briefe im Sinn hatte, die er später in Angriff nahm). Das Projekt fand die Zustimmung der Akademie, wurde aber während des Krieges nicht mehr begonnen. Freye fiel 1915 in Riga und Berend setzte sich nach seiner Rückkehr von der Front an die Briefe, unterstützt von der Samson-Stiftung bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, ohne diese schon als Teil eines größeren Ganzen kenntlich zu machen. Erst nach dem hundertsten Todestag 1925, dem Jahr, in dem auch seine Bibliographie erschien, kam wieder Bewegung in die Planung einer großen Ausgabe; und im Jahre 1927 erschienen bereits der erste Band „Satirische Jugendwerke“ bei Böhlau und die „Prolegomena zur Historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken“ (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jahrgang 1927, Philosophisch-Historische Klasse, Nr. 1; dort S. 4 die oben referierten Einzelheiten). Der weitere Verlauf ist bekannt: Berend konnte an der Ausgabe in den zwanziger Jahren und über die Machtergreifung der Nazis hinaus weiter arbeiten, allerdings um Preis, nicht zu emigrieren und auf die Nennung seines Namens in den Bänden zu verzichten. 1938 wurde er nach der Reichspogromnacht ins KZ Sachsenhausen eingeliefert; noch nach Kriegsbeginn gelang ihm im Dezember 1939 die Ausreise in die Schweiz, und zwar, und dies ist für die weitere Geschichte der Ausgabe entscheidend, mit der Möglichkeit, sein eigenes Archiv und seine Bibliothek nachzuholen; zurück in Berlin blieb hingegen alles, was mit seinen Arbeiten an der ersten Abteilung zusammenhing, vor allem seine umfangreichen Abschriften aus dem Nachlass für die Apparatbände, die er im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften erstellt hatte und von denen es keine Doppel gab.

An der Preußischen Akademie der Wissenschaften geschah nach Berends Emigration auch kriegsbedingt nicht mehr viel. Franz Koch, Professor der Literaturgeschichte an der Berliner Universität und überzeugter Nationalsozialist, übernahm die Leitung, trat aber bei der Arbeit nicht in Erscheinung. Unter Koch brachte Kurt Schreinert, der schon ein Mitarbeiter Berends gewesen war, 1942 den Band 17 mit „Herbst-Blumine“ heraus; für die Apparate engagierte Koch Paul Stapf, der noch 1944 den ersten jener geplanten Lesartenbände herausbrachte, die das Verhältnis der Drucke zu den im Nachlass erhaltenen Vorarbeiten dokumentieren sollte (SW I 19). Die Bestrebungen, die Arbeiten nach Kriegsende schnell wieder aufzunehmen, dokumentieren die im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erhaltenen Akten der Akademieleitung. Vom März 1946 datieren die ersten erhaltenen Papiere zur Wiederaufnahme der Arbeit an Jean Paul. Zwei Voraussetzungen dieser Wiederaufnahme benannte Leiva Petersen, die Leiterin des Böhlau-Verlages, in zwei späteren Briefen: An die Akademieleitung schrieb sie am 5. Juni 1946, dass durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Lizenz zur Wiederaufnahme der Verlagstätigkeit erteilt worden sei; der zur Genehmigung eingereichte Verlagsplan schließe auch die Fortführung der Jean Paul-Ausgabe ein. Und Berend gegenüber erklärte sie am 16. Juli, der Verlag habe die Kriegswirren „verhältnismäßig glimpflich“ überstanden und „seine Bestände weitgehend erhalten können, vor allem auch die Jean-Paul-Ausgabe“, die nur „durch Verkauf schon recht zusammengeschmolzen“ sei. Da außer Frage stand, dass Koch und Stapf ihre Arbeiten weiterführen sollten, hatte der Leiter der Deutschen Kommission, der Historiker Friedrich Baethgen, bereits am 19. März 1946 an Eduard Berend den Vorschlag gerichtet, die Leitung der Ausgabe wieder zu übernehmen, ein Vorschlag, der Berend offenbar nie erreichte. Dagegen ist die von leiser Hoffnung erfüllte, aber heute erschütternd zu lesende Antwort erhalten, die er Leiva Petersen, der Leiterin des Verlages Hermann Böhlaus Nachfolger in Weimar, auf einen Brief vom 16. Mai 1946 gab. Petersen hatte angekündigt, dass der interimistische Akademiepräsident Johannes Stroux die Weiterführung der Ausgabe wünschte, und mitgeteilt, dass Böhlaus Nachfolger nicht nur die weiteren Bände herausbringen wolle, sondern dass auch ein satzfertiges Manuskript des zweiten Lesartenbandes (SW I 20) in ihrem Hause liege. Berend antwortete am 11. August 1946: „Ihr Schreiben vom 16. v.M. war mir eine angenehme Überraschung. Gibt es mir doch einige Hoffnung, mein Lebenswerk, die hist.-krit. Jean-Paul-Ausgabe, vielleicht doch noch zu Ende führen zu dürfen, eine Aussicht, die ich fast schon aufgegeben hatte. Ich bin natürlich gern bereit, den Rest meines sonst sinnlos gewordenen Lebens (Meine ganze Familie ist bis auf einen Bruder der großen Katastrophe zum Opfer gefallen) und alle mir noch zur Verfügung stehende Kraft dieser Aufgabe zu widmen, wenn mir die Möglichkeit dazu unter halbwegs erträglichen Bedingungen gegeben wird. […] Sehr am Herzen liegt mir auch die Vollendung meiner Gesamtausgabe von Jean Pauls Briefen, von der 1922-26 vier Bände im Verlage Georg Müller in München erschienen sind. Das Manuskript der noch fehlenden vier Bände habe ich annähernd druckfertig hergestellt, soweit es mir hier im Exil möglich war. Leider weiß ich nicht, ob und wo noch Restbestände der vier gedruckten Bände vorhanden sind.“

Ebenfalls mit Datum vom 11. August wandte Berend sich aus Genf an die Akademie: „Ich bin nun gern bereit, unter den heutigen veränderten Umständen die Herausgabe wieder zu übernehmen und den Rest meines Lebens und meiner Kraft dieser schönen Aufgabe zu widmen, wenn man sie mir wieder anvertrauen will. Natürlich müßten die Bedingungen den derzeitigen Lebens- und Arbeitsverhältnissen angepaßt werden. Ich habe nicht nur alle meine Angehörigen (mit einer Ausnahme) verloren, sondern auch mein ganzes Vermögen eingebüßt. Es müßte mir also eine Bezahlung zugesichert werden, die mir ein bescheidenes Dasein ermöglicht. Wenn irgend möglich, müßte mir auch ein Arbeitsraum zur Verfügung gestellt werden, in dem ich meine glücklicherweise größtenteils geretteten Jean-Paul-Papiere und Jean-Paul-Bibliothek unterbringen könnte. Hoffentlich haben sich auch die Vorarbeiten für die noch ausstehenden Bände, die ich seinerzeit der Akademie übergeben hatte, erhalten.“

Die wichtigsten Themen und Fragen in der Korrespondenz zwischen Akademie und alt-neuem Herausgeber sind in diesen Briefen angesprochen: Wieder aufgenommen werden sollte vorrangig die Arbeit an der Ausgabe der Werke, d.h. zu diesem Zeitpunkt abgesehen von der Sammlung der verstreuten Schriften (I 18) an den Lesartenbänden für die I. Abteilung und an den Nachlassveröffentlichungen der II. Abteilung. Diese Arbeit musste bezahlt werden, sie setzte Berends Anwesenheit in Berlin voraus (dass schon einfache Besuchseinladungen schwierig waren, sollte sich indes bald herausstellen) und den Zugriff sowohl auf die alten Materialien wie auf den Nachlass Jean Pauls. Das Projekt scheiterte schon an den letzten beiden Punkten. Zwar hoffte Baethgen zunächst, die ausgelagerten Materialien wieder zurückführen zu können, doch dies erwies sich als Illusion. Ende 1947 erreichte Berend die Nachricht, dass seine Papiere verloren waren; an Baethgen schrieb er am 20. Dezember 1947 entsetzt: „Die Nachricht, dass meine sehr umfangreichen Vorarbeiten zu den Lesartenbänden der Jean-Paul-Ausgabe, die ich seinerzeit (Ende 1939) beim Verlassen Deutschlands der Akademie zurückgelassen hatte, verloren gegangen sind, hat mich, wie Sie sich denken können, aufs höchste bestürzt. Es waren die sämtlichen Lesarten (meist in blauen Schreibheften) und Abschriften der Entwürfe zu den Bänden 5 und 7-16, das heisst die Arbeit vieler Jahre. Da alles mit der Hand geschrieben war, besitze ich keine Kopien davon. Nur die Abschriften von Nachlasspapieren, die für die zweite Abteilung in Betracht kommen, habe ich glücklicherweise mitgenommen und noch bei mir. [...] Zweitens möchte sich wissen, wie es denn mit dem Jean Paulschen Nachlass steht. Die Angabe von Dr. Neuendorff, dass auch ‚die Handschriften aus dem Besitz der Staatsbibliothek‘ zur Zeit nicht auffindbar seien, lässt mich befürchten, dass auch der Nachlass Jean Pauls, der ja ein halbes Hundert Pappkästen füllte, verschwunden ist. […] Da nun auch im Falle eines nur zeitweiligen Abhandenseins dieser Papiere die Fortsetzung der Ausgabe von Jean Pauls Werken sich auf alle Fälle sehr verzögern würde, möchte ich zur Erwägung geben, ob es nicht richtig wäre, zunächst einmal die Beendigung der Gesamtausgabe von Jean Pauls Briefen ins Auge zu fassen. […] Die noch fehlenden Briefe der Jahre 1805-25 würden mit Anmerkungen und Registern noch vier Bände füllen, und das Manuskript dazu habe ich nahezu druckfertig ausgearbeitet hier liegen. Mit dem Druck könnte sofort begonnen werden.“ Dass Berend den Zugriff auf den Nachlass Jean Pauls für die Fortsetzung der Arbeit an der Ausgabe für unabdingbar hielt, hing im Übrigen auch damit zusammen, dass er – nach anfänglich vorsichtig wohlwollender Einschätzung der Fahnen des ungedruckten Bandes textkritischen Bandes I 20 (der dann auch nie gedruckt wurde) – zu einem vernichtenden Urteil über die Arbeit von Stapf im noch kurz vor Kriegsende erschienen Band I 19 kam. An Baethgen schrieb er am 21. September 1947: „Umso mehr war ich aber über den von Dr. Paul Stapf herausgegebenen Lesartenband entsetzt. Wie war es nur möglich, dass man für diese besonders schwierige Aufgabe jemanden bestimmte, der offenbar ihr in keiner Hinsicht gewachsen war? Auf jeder Seite, ja manchmal in jeder Zeile finden sich die gröbsten Versehen. Das Erscheinungsjahr 1944 erklärt vielleicht manches, entschuldigt aber doch eine solche Leichtfertigkeit nicht. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass der Band früher oder später ganz neu gedruckt wird; er würde uns sonst die ganze Ausgabe entwerten.“ Offenbar regte Baethgen daraufhin eine Nachprüfung des ungedruckten Bandes 20 im Germanischen Seminar der Universität an, wo man zu einem ähnlich vernichtenden Ergebnis kam.

Wie Berend dies schon vor dem Ersten Weltkrieg angedacht hatte, konnte er die Briefausgabe teils ganz neu, teils erweitert als III. Abteilung der Historisch-kritischen Jean Paul-Ausgabe herausbringen. Als Akademieprojekt erschien diese nicht mehr bei Hermann Böhlaus Nachfolger, sondern im neuen Verlag der Akademie selber, wie der Aktenvermerk von einer Besprechung in Berlin mit Berend festhält. Bei derselben Besprechung wurde nicht nur beschlossen, den weiteren Satz des Lesartenbandes 20 zu stoppen, sondern auch Band 19 neu zu drucken (was dann nie geschah). Da Berend die Briefausgabe als Fortsetzung der in den zwanziger Jahren vorgelegten vier Bände verstand, begann er seine Arbeiten mit der Endredaktion von Band 5. Der Band ging im Mai 1948 nach Berlin; im Januar 1949 und drängender im März erkundigt sich Berend nach seinem Schicksal. Das Unglück passierte einem Mitarbeiter des Verlages erst danach, am 18. März in Leipzig vor dem Hotel Fürstenhof zwischen 17.30 und 18.30 Uhr. Ein Fiat 1100 des Verlages wurde gestohlen, darin das vollständige Manuskript des Bandes (687 Seiten handschriftlich!). Ein ausführlicher Brief des Verlages an die Akademie vom 24.6.1949 schildert nicht nur das Unglück, sondern auch die Bemühungen um Wiederbeschaffung: Zeitungsartikel, tägliche Radioaufrufe, Plakate mit dem Versprechen hoher Belohnung, Handzettel, die verteilt wurden (und auf denen nach einem „Original-Manuskript von Jean Paul“ gesucht wurde). Vergeblich.

Erstaunlich bleibt, mit welcher Gelassenheit Berend jedenfalls in Briefen reagierte, zumal von dem Manuskript, anders als dies bei einer maschinenschriftlichen Ausfertigung geschehen wäre, ein Durchschlag nicht existierte und Band 5 nicht einfach neu zusammengestellt konnte, sondern auf Grund der Unterlagen rekonstruiert werden musste (was erst zum Ende Projekts geschah). Zunächst wurden die Arbeiten mit Band 6 fortgesetzt, Band 1 für einen überarbeiteten Neudruck vorbereitet und eine erweiterte Ausgabe von „Jean Pauls Persönlichkeit“ vorbereitet (diese kam 1956 gemeinsam bei Böhlaus Nachfolgern und im Akademie-Verlag heraus). Chronologisch erschienen zunächst die ‚neuen‘ Bände: Bd. 6 1951, Bd. 7 1954 und Bd. 8 1955; darauf folgte der überarbeitete und erweiterte Neudruck des bereits in den zwanziger vorgelegten Teils: Bd. 1 1956, Bd. 2 1958, Bd. 3 1959 und Bd. 4 1960. Am Schluss standen 1961 der rekonstruierte 5. Band (von dem Bd. IV 5 zeigt, dass die Verluste nicht ganz so dramatisch waren wie immer befürchtet) und 1964 der Register- und Nachtragsband der III. Abteilung. Nur nebenbei sei bemerkt, dass Berend im Jahr davor nochmals einen ausstehenden Band der I. Abteilung mit den zu Lebzeiten Jean Pauls gedruckten, aber nie gesammelten verstreuten Schriften vorlegte (SW I 18).

Der neuen Briefausgabe fügte Berend wie schon den ersten vier Bänden in den zwanziger Jahren die Regesten der Briefe an Jean Paul an; diese seien für das Verständnis seiner Korrespondenz „oft unentbehrlich“ (SW III 6, S. IX). Philologisch genaue Abschriften Berends (einschließlich der Varianten) und Korrektureinträge in Druckausgaben lassen vermuten, dass Berend sich die Möglichkeit, wenigstens Teile der An-Briefe zu veröffentlichen, offen halten wollte. Ende der vierziger Jahre dürfte er an diese Möglichkeit indes kaum noch geglaubt haben; und die Regesten hatten sicherlich die Funktion, die nur in entlegenen Drucken oder gar nicht mehr greifbaren Briefe zu ersetzen. Denn nachdem die Königliche Bibliothek in Berlin 1888 den Nachlass Jean Pauls erworben hatte, war die Korrespondenz den damaligen Gepflogenheiten gemäß herausgelöst und in die Sammlung Autographa integriert worden. Im Zweiten Weltkrieg lagerte man diese Sammlung nach Schlesien aus, von wo aus sie in die Biblioteka Jagiellónska in Krakau verbracht wurde (dabei gingen auch einige Buchstaben verloren). Hier war sie und war damit auch die Korrespondenz Jean Pauls für die Wissenschaft bis in die Zeit der Wende 1989 nicht zugänglich – auch wenn man heute mit Grund vermuten kann, dass Eduard Berend wie viele seiner Kollegen sehr wohl wusste, was mit den ‚verschwundenen‘ Autographen geschehen war.

Erst zu Beginn der 1990er tauchte dieses Material in der wissenschaftlichen Diskussion wieder auf. Zunächst spielte es eine Rolle für einen Projektplan mit den Korrespondenznetzwerken Jean Pauls; federführend war Dorothea Böck. Darin wurden die An-Briefe nicht für sich alleine gesehen, sondern vielmehr als Teil eines netzwerkartigen größeren Zusammenspiels, in dem man ‚den Tod des Autors‘ und an dessen Stelle eine Denkfabrik feierte. Mit diesem damals mehr modernen als modischen Gedanken, zu dem noch die Beobachtung kam, dass dieses Netzwerk von der Offenheit sowohl der Sender- wie der Empfängerseite lebte (viele haben genannt oder ungenannt mehr als einen Verfasser und mehr als einen Adressaten) und auch von der Auflösung des Briefes als einer gleichsam abgeschlossenen Form (man denke nur an Jean Pauls Kommentierungen auf empfangenen Briefen) gehörte man zur methodischen Avantgarde. Da es noch keine elektronische Editionsphilologie mit all ihren Verlinkungsmöglichkeiten gab, verlief man sich dabei im philologischen Dschungel; die Beschränkung auf die An-Briefe war in einem Forschungsumfeld, das zunehmend zählbare Resultate: lies veröffentlichte Bände verlangte, die einzige Rettung – und angesichts der Berend-Bände mit den Dichterbriefen allein nicht nur vernünftig, sondern überdies ein dringendes Desiderat. Die zahlreichen Transkriptionen von Umfeldbriefen (etwa 1600) kamen bei der folgenden Arbeit freilich der Kommentierung zugute.

Die neue Jean Paul-Arbeitsstelle in Berlin nahm ihre Arbeit 1992 auf und wurde 1994 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften als Langzeitvorhaben im Akademienprogramm angesiedelt. Unter dieser Trägerschaft wurden die gesamten Vorarbeiten geleistet (Transkriptionen, Anlage der Datenbanken usw.), erschienen die Bände IV 1 (2003) und IV 2 (2004), wurden die Bände IV 3.1-3.2 (2009) weitgehend erarbeitet und wurde Band IV 5 soweit vorbereitet, dass er extern abgeschlossen werden konnte (2011). Nachdem das Vorhaben 2006 ausgelaufen war, machten wechselnde Trägerschaften den Abschluss möglich: die Oberfrankenstiftung, ergänzt durch die Bayerische Landesstiftung für die Bände IV 4 (2010) und IV 6 (2012), die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, ergänzt durch die Otto Wolff-Stiftung für die Bände IV 7 (2013) und IV 8 (2015) und schließlich die Gerda Henkel Stiftung, die Oberfrankenstiftung, die Otto Wolff-Stiftung, die Stiftung Preußische Seehandlung sowie die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften für Band IV 9 (2017). Projektleiter war bis Juli 1996 Hans-Henrik Krummacher, danach Norbert Miller. Die Arbeitsstellenleitung lag zunächst in den Händen von Dorothea Böck, ab Frühjahr 1997 in denen von Monika Meier, ab 2008 in denen von Markus Bernauer. Über längere Zeit als Mitarbeiter standen ihnen Angela Goldack und Jörg Paulus, nach 2008 Michael Rölcke und Angela Steinsiek zur Seite.

Bereits in den neunziger Jahren tauchte die Idee einer digitalen Ausgabe der Briefe Jean Pauls auf. Es war die Zeit, als man den ersten Büchern CDroms mit ergänzendem Material beizugeben begann oder von Hybridausgaben schwärmte. Wie eine digitale Ausgabe aussehen könnte, welche Vorteile und welche Nachteile sie hat und vor allem, dass sie auf Seiten des Nutzers nicht mehr den Besitz eines Datenträgers voraussetzt, war damals noch nicht recht klar. Digitale Texte waren nach dem Muster des Buches gedacht, wirkten meist wie von einem Textverarbeitungsprogramm generiert und verfügten immerhin schon über eine Volltextsuche. An das Internet als Vertriebsweg von – zudem frei zugänglichen Editionen – dachte aber noch kaum jemand, und damit auch noch nicht an die Möglichkeiten, die Normdaten, maschinenlesbar, für die Verknüpfung von Wissen eröffnen. So verdanken wir den neunziger und den frühen 2000er Jahren die Ideen zu den neuen Ausgaben und erste Ansätze der Ausführung. Im Falle Jean Pauls war vor allem die früh erfolgte Digitalisierung des Registers entscheidend, das ergänzt um die Einträge der IV. Abteilung und technisch entscheidend weiter entwickelt bis heute unseren Personen-, Orts- und Werkregistern zugrunde liegt.

Dieses Register wird auch für die Zukunft der Dreh- und Angelpunkt der weiteren Entwicklung der Plattform mit Jean Pauls Korrespondenz sein; mit seiner Hilfe lassen sich die Briefe an den Dichter leicht anbinden. Und es lässt sich so das Briefnetzwerk um Jean Paul erschließen, das rein materiell in einem erstaunlichen Umfang erhalten ist. Dessen Aufarbeitung und die Präsentation der Briefe im Umfeld derer Jean Pauls ist das nächste Projekt; dieses wird nicht allein unser Wissen um die Welt Jean Pauls markant vergrößern, es wird vor allem unseren Begriff der Kommunikation des ‚klassischen Zeitalters‘ über die Schwelle des 21. Jahrhunderts heben helfen.


Markus Bernauer

Über die Edition der Von-Briefe

Einleitung
Editionsgeschichte
Digitale Konzeption
Digitalisierte Materialien
Konkordanzen